Immortalis
mitten in der Landebahn auffüllten. Mia sah immer noch die Arbeiter vor sich, die ihr und den anderen verdatterten Passagieren an Bord lässig zugewinkt hatten.
Beirut war wieder offen für Geschäfte, Bombenkrater hin, Bombenkrater her. Und sie konnte endlich – wenn auch ein paar Monate später als geplant – das große Phönizier-Projekt in Gang bringen, auf das sie sich ein Jahr lang vorbereitet hatte.
Sie hatte in einem kleinen Team von Genetikern in Boston gearbeitet, das sich die gewaltige Aufgabe gestellt hatte, die Ausbreitung des Menschen auf dem Globus nachzuzeichnen. Das Projekt, bei dem DNA-Proben von Tausenden von Menschen aus isolierten Stämmen auf allen Kontinenten gesammelt und analysiert wurden, hatte mit atemberaubender Endgültigkeit bestätigt, dass die gesamte Menschheit von einem kleinen Volk von Jägern und Sammlern abstammte, das vor rund sechzigtausend Jahren in Afrika gelebt hatte, eine Entdeckung, die von «empfindsameren» Kreisen nicht allzu gut aufgenommen worden war. Mia war gleich nach ihrem zweiten Examen Teil des Teams geworden, kurz bevor die zentralen Forschungsergebnisse veröffentlicht worden waren. Die Arbeit war eher ernüchternd und eintönig gewesen und hatte hauptsächlich darin bestanden, immer weitere Proben zu sammeln, um das Gesamtbild zu unterfüttern. Sie hatte erwogen, sich ein anderes Forschungsprojekt zu suchen, aber die interessantesten Bereiche der Genetik waren blockiert, weil der Präsident eine Abneigung gegen die Stammzellenforschung hegte. Also war sie geblieben, wo sie war – bis das Angebot kam.
Der Mann, der sie angesprochen hatte, war ein Vertreter der Hariri Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung mit eindrucksvollem Kapital, gegründet von dem milliardenschweren ehemaligen Premierminister des Libanon vor seiner Ermordung im Jahr 2004. Das Angebot des Stiftungsvertreters war vage, aber dennoch bestechend: Einfach ausgedrückt, sollte sie ihnen helfen, herauszufinden, wer die Phönizier gewesen waren.
Sie war verblüfft gewesen.
Überraschenderweise und trotz zahlreicher Erwähnungen in alten Schriften derer, die mit ihnen zu tun hatten, war über die Phönizier wenig aus erster Hand bekannt. Von ihren Schriften und ihrer Literatur war nichts erhalten, und alles, was man über sie wusste, war aus Berichten Dritter zusammengestückelt. Sogar ihr Name war ihnen von Fremden gegeben worden: Die Griechen nannten sie phoinikes , «die Roten», nach dem luxuriösen purpurroten Tuch, das sie mit einem kostbaren Farbstoff färbten. Es gab keine phönizischen Bibliotheken, keine Wissensschätze, keine in Alabasterkrügen versteckten Papyrusrollen – nichts aus dieser zweitausendjährigen Geschichte, die ein brutales Ende fand, als die Römer schließlich im Jahr 146 v. Chr. Karthago in Schutt und Asche legten, die Ruinen mit Salz bedeckten und jede Wiederansiedlung in der Stadt für die nächsten fünfundzwanzig Jahre verboten. Damit war das letzte große Zentrum der phönizischen Kultur ausgelöscht. Sie war spurlos vom Angesicht der Erde verschwunden.
Aber im Libanon weckte der Name Leidenschaft.
Nach dem Bürgerkrieg der siebziger und achtziger Jahre hatten ein paar christliche Gruppierungen im Libanon ihn für sich beansprucht. Sie schufen so einen feinen Unterschied zwischen sich und ihren muslimischen Landsleuten und stellten diese als spätere Einwanderer von der arabischen Halbinsel dar, die erst nach dem Aufstieg des Islam gekommen seien und deshalb einen geringeren Anspruch auf das Land hätten. Jede Auseinandersetzung in der Region, so schien es, ließ sich letzten Endes auf vier schlichte Wörter reduzieren: «Wir waren die Ersten.» Die Spannungen hatten so weit zugenommen, dass das Wort «Phönizier» in offiziellen Kreisen zum Tabu wurde. Im Beiruter Nationalmuseum war es nirgends zu finden; auf den Schrifttafeln an den Ausstellungsstücken bediente man sich jetzt einer politisch korrekteren Terminologie und nannte das Ganze «frühe Bronzezeit».
Das war bedauerlich – und womöglich war es auch Geschichtsklitterung. Daher das Projekt.
Mia war sich darüber im Klaren, dass sie sich auf ein politisches Minenfeld begab. Die Ziele dieses Projekts waren durchaus altruistisch: Wenn es möglich war, mittels DNA-Analysen nachzuweisen, dass alle Bewohner des Landes, Christen und Muslime gleichermaßen, Nachkommen derselben Kultur waren, ein Stamm, ein Volk, dann könnte das dazu beitragen, altüberlieferte Vorurteile zu
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