Immortalis
und es rieselte eisig über ihren Nacken, als sie an seine beunruhigenden Neuigkeiten dachte.
Jemand, den sie kannte, war gestorben. Wegen dieses Buches.
Wo hatte Faruks Freund es gefunden? Und was stand darin? Ihre Forschung, ihre und Toms, war damals ergebnislos geblieben. Warum sollte dieses Buch noch irgendeine Bedeutung haben?
Sie dachte an Faruks letzte Frage: Wer ist sonst noch hinter dem Buch her?
In all diesem Chaos war dies das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte. Aber es gab kein Entrinnen: Sie wollte sich eigentlich nicht noch einmal mit Faruk treffen, aber sie wusste, dass sie ihn nicht enttäuschen durfte. Er zählte auf sie. Er brauchte Hilfe. Er hatte Angst. Je länger sie an die Panik in seinem Gesicht dachte, desto mehr graute ihr vor dem Treffen mit ihm.
Und noch ein Gedanke plagte sie.
Sie musste Tom informieren.
Das heißt, falls sie ihn ausfindig machen konnte. Sie hatten keinen Kontakt gehalten. Sie hatte ihn niemals wieder gesehen oder gesprochen, nachdem er den Irak verlassen hatte.
Nicht einmal, als sie herausfand, dass sie schwanger war.
Sie legte das Bild weg und zog ihren Organizer hervor. Der großformatige, ledergebundene Filofax begleitete sie schon seit Jahrzehnten, und er ließ sich kaum noch schließen, so viele Blätter, Visitenkarten und Notizen hatten im Laufe der Jahre ihren Platz zwischen den abgegriffenen Umschlägen gefunden. Sie durchsuchte die Fächer und Hüllen, bis sie die alte Karte fand. Darauf stand sein Name, Tom Webster, in einer schlichten, gestochenen Schrift, und darunter der Name und das Logo des Instituts. Sie hatte der Versuchung, sie zu benutzen, immer widerstanden, und im Laufe der Zeit war sie in einem hinteren Fach ihres Filofax in Vergessenheit geraten.
Dreißig Jahre. Sinnlos, da noch anzurufen.
Faruks flehentliche Bitte klang ihr in den Ohren. Sie müssen ihn fragen , Sitt Evelyn . Etwas in ihr gab nach, und sie ließ es auf einen Versuch ankommen.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Signal über ein paar Satelliten gesprungen war und das vertraute Klingelzeichen eines amerikanischen Festnetztelefons im Hörer ertönte. Gleich darauf meldete sich eine Frauenstimme, die Evelyn übertrieben freundlich informierte, dass sie mit dem Haldane Institute verbunden sei.
Evelyn zögerte. «Ich versuche einen alten Freund zu erreichen», sagte sie schließlich mit unsicherer Stimme. «Sein Name ist Tom Webster. Er hat mir diese Nummer hinterlassen, aber … es ist eine Weile her.»
«Einen Moment, bitte.» Evelyns Herz krampfte sich zusammen, als die Telefonistin ihr Verzeichnis durchsuchte. «Tut mir leid», meldete die Frau sich dann unangemessen vergnügt. «Ich finde den Namen hier nicht.»
Evelyn sank auf ihrem Stuhl zusammen. «Sind Sie sicher? Ich meine – könnten Sie vielleicht noch einmal nachsehen, bitte?»
Die Telefonistin ließ sich den Nachnamen buchstabieren und suchte ein zweites Mal erfolglos. Evelyn seufzte trübsinnig. Offenbar bemerkte es die Telefonistin, denn sie sagte: «Wenn Sie möchten, kann ich in unseren Personalakten nachsehen und mich bei Ihnen melden. Vielleicht hat Ihr Freund hinterlassen, wie er zu erreichen ist.»
Evelyn nannte ihren Namen und ihre libanesische Handynummer, bedankte sich und legte auf. Sie hatte eigentlich nicht damit gerechnet, ihn dort zu erreichen; es war viel zu lange her. Aber nachdem die Luftblase der Aufregung geplatzt war, fühlte sie sich angespannt und ruhelos.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. Sie hatte sich mit Mia auf einen Drink in ihrem Hotel verabredet. Das Timing hätte nicht schlechter sein können. Sie überlegte, ob sie sie anrufen und absagen sollte, aber es war eine unerträgliche Vorstellung, noch zwei Stunden allein hier zu sitzen, Gefangene der rumorenden Erinnerungen, und auf ein Treffen zu warten, vor dem ihr von Minute zu Minute mehr graute.
Ein Drink mit ihrer Tochter bei guter Musik, und ein paar Gesichter, die ihr Ablenkung verschafften – das würde ihr vielleicht helfen, die Warterei zu überstehen. Sie würde sich einfach ein bisschen bedeckt halten und das Thema meiden. Zumindest, bis sie wusste, was da im Gange war.
Sie schloss den Organizer, legte ihn auf ihren Schreibtisch, stopfte die Polaroids und ihr Handy in die Handtasche und machte sich auf den Weg zum Hotel auf der anderen Straßenseite.
4
Die Telex-Geräte waren Vergangenheit. Das mittelmäßige chinesische Restaurant war nicht mehr da; an seine Stelle war das glänzend
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