Immortalis
Gelände eine genauere Untersuchung wert war.
Ein paar Wochen später war sie bei Sondierungsarbeiten in einer alten Garage neben der Moschee noch auf etwas anderes gestoßen. Dieser Fund war nicht annähernd so alt oder so wertvoll und keineswegs spektakulär: eine Reihe von kleinen, unterirdischen Tonnengewölben, seit Jahrhunderten vergessen. Die ersten Kammern waren bis auf ein paar spartanische Holzmöbel, Urnen, Krüge und Kochutensilien leer. Interessant, aber nicht außergewöhnlich. Etwas in der hintersten Kammer jedoch erregte sofort kribbelnde Aufmerksamkeit: In die Hauptwand war das große, kreisrunde Bildnis einer Schlange eingemeißelt, die in ihren eigenen Schwanz biss.
Der Uroboros.
Es war eines der ältesten mystischen Symbole der Welt. Seine Wurzeln reichten jahrtausendeweit zurück und waren weit verzweigt. Von den Schweinedrachen der Hongschan-Kultur in China ins alte Ägypten und von dort zu den Phöniziern und den Griechen, die ihm seinen Namen gaben: Uroboros, der Schwanzfresser. Von dort fand das Bild unter anderem seinen Weg in die nordische Mythologie, in die Hindu-Tradition und in den aztekischen Symbolismus. Außerdem hatte es über Jahrhunderte hinweg seinen festen Platz im arkanen Symbolismus der Alchemisten. Die sich selbst verschlingende Schlange war ein machtvoller Archetypus, der für die Völker Verschiedenes repräsentierte – für manche war es ein gutes Symbol, für andere ein Zeichen des Bösen.
Bei der näheren Erforschung der Gewölbekammern machte sie noch weitere sonderbare Entdeckungen. Was man in einem der ersten Räume für Kochutensilien gehalten hatte, war, wie sich herausstellte, eher alchemistischer Natur: Es waren primitive Laborgeräte. Die Scherben erwiesen sich bei näherer Untersuchung als Bruchstücke von Glaskolben und -bechern. Auch Reste von Flaschenkorken und Röhren wurden gefunden, daneben weitere Glaskrüge und Lederbeutel.
Den Kammern haftete etwas düster Bedrohliches an, das Evelyns Neugier weckte. War sie auf den Versammlungsort eines unbekannten Geheimbundes gestoßen, eines verdeckten Zirkels, der unbeobachtet von neugierigen Augen zusammentrat – stets bewacht von dem unheimlichen Schwanzfresser? Während der nächsten Wochen erforschte sie die Kammern gründlicher, und der Lohn für ihre Mühe war eine weitere Entdeckung: ein großer Tonkrug, mit Tierhaut verschlossen und in einer dunklen Ecke vergraben. Ein Uroboros, dem an der Wand ganz ähnlich, war hineingeritzt. In dem Krug fand Evelyn mehrere Folianten aus Papier, einem Material, das in dieser Gegend schon seit dem achten Jahrhundert anstelle von Pergament und Velin verwendet wurde. Sie enthielten eine reiche Fülle von Texten und waren aufwendig mit faszinierenden geometrischen Mustern, wissenschaftlichen Naturdarstellungen und anschaulichen, wenn auch bizarren anatomischen Studien verziert.
Als Evelyn jetzt die verschiedenen Abbildungen des Symbols in ihrem Ordner durchblätterte – Stiche, Holzschnitte und andere Drucke –, fielen ihr ein paar alte, verblichene Fotos in die Finger. Sie schob die Unterlagen zur Seite und betrachtete die Bilder. Mehrere Aufnahmen zeigten die Kammern, andere sie selbst mit ihrem Team an der Ausgrabungsstätte. Auf einem war auch Faruk zu sehen. Wie sehr er sich verändert hat, dachte sie. Wie haben wir uns alle verändert. Auf einem Foto stand sie als viel jüngere Frau, eine ehrgeizige Dreißigjährige mit leuchtenden Augen, neben einem etwa gleichaltrigen Mann. Seite an Seite standen sie an einem Grabungsfeld in der Wüste, zwei Abenteurer aus einer vergangenen Zeit. Sie erstarrte, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Bilder waren alle nicht sehr scharf; es waren kleine Abzüge, die sie damals selbst entwickelt hatte, und sie waren mit der Zeit verblasst. An jenem Tag hatte die Sonne glühend heiß gebrannt. Ihre Gesichter waren von Sonnenbrillen verdeckt und dunkel vom schützenden Schatten ihrer Safarihüte. Dennoch konnte sie seine Züge in allen Einzelheiten vor sich sehen. Und noch nach all den Jahren machte ihr Herz bei seinem Anblick einen Satz.
Tom.
Sie starrte das Bild an, und der Lärm der wimmelnden Stadt vor ihren Fenstern verschwand. Ein bittersüßes Lächeln trat auf ihr Gesicht, und ein Sturm von widerstreitenden Gefühlen erwachte in ihr.
Sie hatte nie verstanden, was vor all den Jahren wirklich passiert war.
Tom Webster war unangekündigt in Al-Hillah aufgetaucht, ein paar Wochen nach ihrem Fund. Er hatte sich
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