Immortalis
zurückschreckte.
Sie beobachteten das Heer der Festgäste aus der Ferne und wechselten launige Bemerkungen, zuweilen auf Kosten der grell kostümierten Gäste. Thérésias Kostüm war in seinen Ambitionen ebenso zurückhaltend wie St. Germains: Es bestand lediglich aus einem Schal aus weißen Federn über dem schlichten weißen Ballkleid, der ihr die ätherische – und dem Dschungel sehr entgegengesetzte – Erscheinung einer Taube verlieh. St. Germain, ohne Perücke und von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, sah indessen noch weniger aus wie der Panther, der er zu sein vorgab.
«Mein Onkel sagt, Sie sind inzwischen ein regelmäßiger Gast in seinem Hause», erwähnte sie schließlich. «Er ist sehr beeindruckt von Ihren Kenntnissen über die Levante. Er hat große Sehnsucht nach Konstantinopel, wissen Sie.»
Er sah sie an. Anscheinend suchte sie in seinem Gesicht nach einer Reaktion. «Das verstehe ich gut. Die Stadt hat etwas sehr Tröstliches in ihrer» – er zögerte, als er das surreale Treiben in der Ferne betrachtete – «in ihrer Einfachheit.» Und plötzlich, wie zum Hohn seiner Worte, erblickte er etwas, das ihn erschrecken ließ.
Durch die Rauchschleier des Feuerwerks, mitten zwischen den Straußen und Gorillas, starrte ihn ein Paar Augen an. Es waren die Augen eines jungen Mannes, dessen Wangen und Stirn mit dicken goldenen und braunen Streifen bemalt waren. Auf seinem Kopf saß eine blonde Lockenperücke, aus der zwei Tierohren herausragten. Eine dicke, pelzige Mähne war um seinen Hals drapiert. Er spähte aus dem Gedränge hervor wie ein Tiger, der seine Beute im hohen Dschungelgras beäugt.
Das Raubtier war nur einen winzigen Augenblick lang zu sehen; dann verschwand es hinter einem Gästeschwarm. Als die Leute vorübergezogen waren, war es verschwunden.
St. Germain spähte blinzelnd hinüber, aber er konnte den Tiger nicht mehr entdecken. Der Lärm der Menge und die Musik benebelten seine Sinne, und er fragte sich, ob er sich getäuscht hatte. Er schüttelte das Bild ab und wandte sich wieder seiner Begleiterin zu.
Thérésia schien bemerkt zu haben, dass er abgelenkt war, aber sie ging nicht darauf ein. «Möglich», antwortete sie. «Andererseits habe ich den Verdacht, es hat vielleicht mehr mit seiner Sehnsucht nach einer mariage à la cabine zu tun.» Sie bezog sich scherzhaft auf eine Form der befristeten Ehe, die im Orient praktiziert und kabin genannt wurde und bei der man Christinnen monatsweise mieten konnte. «Ich könnte mir vorstellen», fügte sie mit einem ernsten Unterton hinzu, «dass Sie so etwas auch reizvoll finden könnten – oder irre ich mich?»
Auf solche Offenheit war er nicht vorbereitet. «Ich glaube, die meisten Männer könnten so etwas reizvoll finden», erwiderte er.
«Ja, aber es hat etwas Unpersönliches und Unverbindliches an sich – mir scheint, für Sie ist es besonders gut geeignet.»
Diese Bemerkung traf ihn ins Herz. Nicht, dass sie unerwartet gekommen wäre. Er hatte den Ruf eines Mannes kultiviert, der großen Wert auf Unabhängigkeit und Privatleben legte und den es, gelegentlichen Techtelmechteln zum Trotz, nicht nach einer dauerhaften Bindung gelüstete. Aber die Art, wie sie es sagte, dieser wissende, sarkastische Unterton in ihrer Stimme, ihr Blick – es war, als könne sie ihn durchschauen. Und das beunruhigte ihn.
«Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment oder als Tadel auffassen soll», antwortete er zurückhaltend.
«Es ist weder das eine noch das andere, würde ich sagen», antwortete sie scherzhaft. «Nur eine flüchtige Bemerkung von einer faszinierten Beobachterin.»
«Beobachterin? Soll das heißen, Sie studieren mich wie diese armen Tiere dort?» Er deutete auf den nächstgelegenen Käfig. Wider besseres Wissen suchte er zugleich noch einmal die Menge nach dem lauernden Tiger ab. Aber er konnte ihn nirgendwo entdecken.
«Wohl kaum, mein lieber Graf», sagte sie beruhigend. «Obgleich ich mir vorstellen könnte, dass jeder, der von Ihnen fasziniert ist, Ihre Vorliebe für ausweichende Antworten selbst auf die einfachsten Fragen unerträglich frustrierend finden muss. Ich frage mich: Kennt irgendjemand Sie eigentlich wirklich? Im wahren Sinne des Wortes?»
Er lächelte über diese Frage. Gern hätte er geantwortet, er kenne sich eigentlich selbst nicht – nicht mehr –, und fast hätte er es getan. Aber bei dem bloßen Gedanken daran klappte instinktiv sein Visier herunter. «Wo läge der Reiz, wenn ich ein offenes
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