Immortalis
waren. Es war überdies eine Stadt der Gelehrten und eine Fundgrube des Wissens mit ihren reichen Bibliotheken und ungezählten Sammlungen von Handschriften, Büchern und Antiquitäten. Vor allem die waren für ihn von Interesse: die Schätze, die während der Kreuzzüge im Orient geraubt und vor beinahe fünfhundert Jahren nach der Zerschlagung des Templerordens beschlagnahmt worden waren. Ebenjene Antiquitäten, in denen sich das fehlende Mosaiksteinchen des Rätsels verbergen konnte, das vor all den Jahren seinem Leben seinen Stempel aufgedrückt hatte.
Als er in Paris ankam, befand sich die große Stadt in einer Periode des Übergangs. Radikale Denker stellten die Doppeltyrannei von Monarchie und Kirche in Frage. Die Stadt brodelte schier von Auseinandersetzungen und Umwälzungen und von Intrigen – Intrigen, die St. Germain zu nutzen wusste.
Innerhalb weniger Wochen nach seiner Ankunft war es ihm gelungen, sich mit dem Kriegsminister des Königs anzufreunden. Mit dessen Hilfe fand er Zugang zum Kreis des königlichen Gefolges. Aristokraten zu beeindrucken war nicht schwierig. Seine Kenntnisse in Chemie und Physik, die er in den Jahren im Orient erworben hatte, genügten, um die dekadenten Schwachköpfe zu unterhalten und ihnen etwas vorzugaukeln. Dass er fremde Länder kannte und zahlreiche Sprachen beherrschte – sein Französisch in Paris war so makellos wie sein Italienisch in Neapel, und überdies sprach er fließend Englisch, Spanisch, Arabisch und seine Muttersprache, das Portugiesische –, setzte er nur selten ein. Schon bald hatte er einen festen Platz im königlichen Gefolge der verhätschelten Hofschranzen.
Als sein Leumund erst etabliert war, konnte er seine Suche wieder aufnehmen. Seine geschmeidige Zunge öffnete ihm die Türen zu großen Adelshäusern und ihren privaten Sammlungen. Er schmeichelte sich beim Klerus ein und konnte so in den Bibliotheken und Krypten der Klöster stöbern. Er las viel und vertiefte sich in die Reiseberichte Taverniers, in Morgagnis pathologische Studien, in Boerhaaves medizinische Abhandlungen und andere große Werke, die in jener Zeit erschienen. Er hatte Thomas Fullers Pharmacopoeia Extemporanea und Luigi Cornaros Abhandlungen über ein maßvolles Leben eingehend studiert. Aus all diesen Büchern gewann er einen reichen Wissensschatz, aber auf seiner unmöglichen Suche brachten sie ihn keinen Schritt weiter.
Das Symbol des Schwanzfressers war nirgends zu finden, und es fanden sich auch keine medizinischen oder wissenschaftlichen Hinweise darauf, wie der kritische Makel der Rezeptur zu überwinden sei.
Er schwankte zwischen Begeisterung und Verzweiflung. Jede neue Spur versetzte ihn in Aufregung, und jeder Misserfolg ließ die Zweifel an seiner Mission wieder erwachen und seine Entschlossenheit wackeln. Wie gern hätte er seine Bürde geteilt und jemanden hinzugezogen, der ihm helfen und ihm die Aufgabe vielleicht sogar abnehmen könnte. Aber nachdem er gesehen hatte, wie di Sangro zu einem besessenen Raubtier geworden war, als er Wind davon bekommen hatte, wagte er es nicht mehr, irgendjemanden anzusprechen.
Viele Nächte hindurch plagte er sich mit der Frage, ob er sich nicht aus dieser Sklaverei befreien könnte, wenn er die dämonische Formel der Rezeptur einfach vergäße. Das gelang ihm auch ein paarmal, aber niemals länger als für ein oder zwei Wochen. Dann überkam ihn seine Bestimmung erneut, und wieder ergab er sich dem einzigen Leben, das er kannte.
«Ich bitte um Vergebung, guter Herr.»
Die Stimme einer Frau riss ihn aus dem quälenden Nebel seiner Gedanken.
Er drehte sich um und erblickte eine bizarre Gruppe von ausgelassenen Ballgästen. Eine Frau von fast sechzig Jahren in einem aufgeblähten Schafskostüm löste sich vorsichtig aus der Gruppe und kam auf ihn zu. Etwas an ihr weckte eine tiefe Bestürzung in ihm. In ihrem runden Gesicht spiegelten sich Neugier und Verblüffung, als sie ihre Hand ausstreckte und sich als Madame de Fontenay vorstellte. Der Name verstärkte das schmerzhafte Gefühl. Er verbarg sein Unbehagen, und mit einer leichten Verneigung reichte er ihr die Hand.
«Mein lieber Graf», sagte sie nervös und aufgeregt, «würden Sie die Güte haben, mir zu verraten, ob vielleicht ein naher Verwandter von Ihnen vor vierzig Jahren in Rom war? Ein Onkel etwa oder sogar» – sie zögerte – «Ihr Vater?»
Der falsche Graf lächelte strahlend und mit geübter Unaufrichtigkeit. «Durchaus möglich, Madame. Meine
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