Immortalis
überdies den Gestank der Abfälle und menschlichen Exkremente, die in der abscheulichen Tradition des tout à la rue üblicherweise einfach auf die Straße geworfen wurden.
St. Germain schaute nach links, als sie über die Brücke fuhren. Es war eine frische Herbstnacht, und der nahezu volle Mond tauchte die Stadt in einen kühlen, silbrigen Glanz. Er liebte diesen Blick von der Brücke, vor allem am Abend, wenn die Händler und Höker ihre Waren eingepackt hatten und die Spaziergänger nach Hause gegangen waren. Flussaufwärts am nördlichen Ufer lagen dichtgedrängt Ruder- und Segelkähne, und hier und da flackerte ein Feuer. Weiter hinten schimmerten die Schieferdächer der geduckten Häuser auf dem Pont Notre Dame. In ihren Fenstern leuchtete mattes Kerzenlicht. Dahinter ragte die erhabene Notre Dame über der Insel empor. Ihre beiden Türme streckten sich hoch hinauf ins Sternenzelt – ein Bauwerk zum Zeugnis der Größe Gottes, das zunehmend auch als Beweis des menschlichen Genius betrachtet wurde.
An der Westspitze der Insel bogen sie auf den Quai de l’Horloge ein, eine schmale Gasse, auf der einen Seite von Häusern gesäumt, auf der anderen von einer niedrigen Mauer, hinter der die Seine floss. St. Germains Wohnung lag in einem weißverputzten Gebäude an ihrem Ende. Sie waren noch etwa fünfzig Schritte entfernt, als er den Kutscher rufen hörte. Er zog die Bremse an. Schwankend kam die Kutsche zum Stehen.
St. Germain streckte den Kopf aus seinem Fenster und rief zum Kutscher nach vorn: «Roger? Warum halten wir hier?»
Der Kutscher zögerte kurz, ehe er antwortete. «Da vorn, Monsieur le Comte. Die Straße ist versperrt.» Seine Stimme klang ungewohnt zittrig.
St. Germain hörte ein Pferd wiehern und spähte nach vorn. Im trüben Schein einer hängenden Öllaterne, vielleicht dreißig Schritte vor der Kutsche, standen drei Reiter und versperrten die Weiterfahrt. Sie standen einfach da, Seite an Seite, ohne sich zu rühren.
Er hörte Hufschlag von der Brücke hinter sich und drehte sich um. Ein weiterer Reiter näherte sich. Als er unter einer Laterne hindurchritt, sah St. Germain die Tigerstreifen in seinem Gesicht, die durch den wehenden schwarzen Mantel jetzt noch bedrohlicher wirkten.
St. Germain drehte sich erschrocken zu den Reitern um, die ihm den Weg versperrten. Forschend suchte er in den dunklen Tiefen seiner Erinnerung. Das Bild war gerade vollendet, als eine vertraute Stimme durch die Nacht klang.
«Buona sera, marquese.» Di Sangros Stimme klang noch genau so, wie er sie im Gedächtnis hatte: trocken, sarkastisch, schnarrend. «Oder soll ich Sie lieber gentile conte nennen?»
St. Germain warf einen schnellen Blick zu dem Reiter, der ihm den Rückzug abschnitt. Auch dessen geschminktes Gesicht erwachte vor seinem geistigen Auge zum Leben. Er wusste jetzt, warum der Anblick des jungen Mannes ihn beunruhigt hatte: Er hatte ihn schon einmal gesehen – vor wenigen Wochen in einem Pariser Café –, und er kannte ihn aus Neapel. Vor Jahren hatte er ihn dort zu Gesicht bekommen, als er in di Sangros Palazzo gewesen war.
Es war di Sangros Sohn. Aus dem ehrerbietigen Jüngling war ein gefährlich aussehender junger Mann geworden.
St. Germain sah seinen nervösen Kutscher an. «Fahr zu, Roger», befahl er entschlossen. «Fahr sie über den Haufen.»
Der Kutscher stieß einen Schrei aus und gab dem Pferd die Peitsche. Das Tier galoppierte los. St. Germain sah, dass die Pferde sich aufbäumten und zurückwichen, aber dann hob einer der Reiter den Arm. Etwas glänzte bedrohlich im Mondschein. Erst einen Sekundenbruchteil später erkannte St. Germain, dass es eine Armbrust war. Ehe er ein Wort herausbrachte, hatte der Reiter gezielt und geschossen. Der Bolzen durchschnitt surrend die Luft und traf den Kutscher mitten in die Brust. Mit einem Schmerzensschrei kippte er zur Seite und stürzte vom Bock der rasenden Kutsche.
Die Reitergruppe teilte sich und rückte langsam vor. Schreiend fuchtelten sie vor dem verwirrten Pferd mit den Armen, das ziellos weiter vorangaloppierte. Die Räder polterten über das unebene Pflaster, und St. Germain klammerte sich an die Kante des Fensters, als der leichte Wagen einen Satz machte und schwer zur Seite kippte. Er rutschte noch ein Stück und blieb dann knirschend liegen.
Benommen schüttelte sich St. Germain, all seine Sinne zusammennehmend lauschte er angestrengt nach draußen. Auf der Straße war es totenstill; das einzige Geräusch kam
Weitere Kostenlose Bücher