Immortalis
Buch wäre?», fragte er.
«Oh, ich glaube, Ihr Reiz würde eine maßvolle Öffnung aushalten. Ich frage mich nur: Haben Sie eher Angst, Ihre Bewunderer zu verscheuchen, oder fürchten Sie sich davor, jemanden einzulassen?»
Er antwortete nicht gleich. Er hielt ihrem Blick stand und wärmte sich daran, aber er wusste nicht genau, wie er reagieren sollte.
Nach jenem Diner in Madame Geoffrins Salon hatte er diskrete Erkundigungen über Thérésia eingezogen. Sie stand in dem Ruf, die Gesellschaft von Männern zu genießen – von Männern, die sie selbst wählte –, aber in letzter Zeit hatte sich scheinbar etwas geändert. Sie hatte schon seit Monaten keine romantische Beziehung mehr unterhalten. St. Germain war nicht eitel genug, um zu denken, dass er der Grund dafür sei; ihr Rückzug aus der Promiskuität hatte stattgefunden, bevor sie einander kennengelernt hatten. Er hatte zwar mehr Avancen bekommen, als er zählen konnte – die Aristokratie in Paris war besonders lasterhaft –, aber diese Bekanntschaft fühlte sich anders an. Weniger frivol. Ernsthafter.
Und das war genau das Problem.
St. Germain hatte großes Verlangen danach, mit ihr zusammen zu sein. Thérésia de Condillac war unbestreitbar begehrenswert, aber die Gründe, weshalb er sich zu ihr hingezogen fühlte, waren dieselben, die es gefährlich machten, sie in sein Leben treten zu lassen.
«Ich glaube, Sie malen mein Leben sehr viel farbenprächtiger, als es tatsächlich ist», antwortete er schließlich.
Thérésia rückte näher heran. «Warum erzählen Sie mir nichts von den Geheimnissen, die sich hinter Ihrer unbezwingbaren Festung verbergen, und lassen mich selbst urteilen?»
St. Germain zuckte die Achseln. «Ich möchte mir nicht anmaßen, Sie mit den Banalitäten meines öden Daseins zu langweilen. Aber …» Er sprach nicht weiter. So betörend ihr Gesicht auch war, er konnte doch nicht verhindern, dass sein Blick wieder in die Ferne schweifte, wo er jetzt inmitten der Parade der bunten Kostüme den Tiger wiederentdeckt hatte. Wie zuvor stand der Mann bewegungslos im Dunst zwischen den Ballgästen und starrte ihn unverwandt an. Und wie zuvor verschwand er beinahe im selben Augenblick.
Ein Gefühl der Unsicherheit erfasste ihn. Er fühlte sich plötzlich entblößt. In Gefahr.
Diesmal reagierte Thérésia. «Ist alles in Ordnung, Graf?»
St. Germain antwortete mit fester Stimme. «Natürlich. Aber es ist spät, und ich glaube, ich muss mich jetzt entschuldigen.» Er nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen.
Sein plötzlicher Abschied schien sie zu verwirren. Sie lächelte schief. «Sie ziehen die Zugbrücke wieder hoch, Graf?»
«Bis die Belagerung aufgehoben wird», antwortete er mit einer halben Verneigung. Dann ging er davon und spürte ihren Blick noch in seinem Rücken, bis er in der Menge untergetaucht war.
Er lief eilig durch das Gedränge zum Haupttor. Seine Blicke huschten nach links und rechts, und ihm war schwindlig von all den verrückten Tierkostümen, die ihn auf Schritt und Tritt umkreisten. Er spürte, wie sein Puls raste, als er den Palast verließ und seinem Kutscher zuwinkte, der mit einigen Kollegen um ein kleines Feuer herumstand. Der Mann lief los, um das Gespann zu holen, und wenig später fuhren sie in östlicher Richtung auf der Rue St.-Honoré zur Île de la Cité, wo er seine Wohnung hatte.
Er ließ sich in die bequemen Velourspolster der Kutsche zurücksinken und schloss die Augen. Das rhythmische Klappern der Pferdehufe wirkte beruhigend. Seine Gedanken wanderten zurück, und er tadelte sich für die jähe Panik, die ihm jetzt plötzlich ganz unbegründet erschien. Er fragte sich, ob Thérésias Nähe vielleicht seine Instinkte durcheinandergebracht hatte. Der Gedanke an sie vertrieb sein Unbehagen und brachte seinen müden Kopf zur Ruhe. Er begriff, dass er gar nicht anders konnte, als sie wiederzusehen. Es war unausweichlich. Er wandte sich zum Fenster und ließ die kühle Nachtluft über sein Gesicht streichen.
An der Rue de l’Arbre Sec bog die Kutsche nach rechts, und bald darauf fuhren sie über den Pont Neuf. St. Germain hatte dem älteren Viertel der Cité den Vorzug vor anderen, neueren Quartieren gegeben und elegante Räume mit Blick auf den Fluss und den Kai des rechten Ufers angemietet. Das fließende Wasser beruhigte ihn, trotz des schwimmenden Mülls, der die Oberfläche verschmutzte. Der Wind, der an den meisten Tagen und Nächten über die Seine wehte, verminderte
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