Imperfect Match - Liebe ist eigenwillig
Bruder, aber das würde ich noch ändern. Ich richtete mich gleich ein wenig mehr auf. Und drückte die Brust raus. Und streckte den Rücken durch.
„Wieder Rückenschmerzen?“ fragte Colin mitfühlend. „Du brauchst dringend eine neue Matratze. So und jetzt raus hier, die hei-“ Er fing meinen warnenden Blick auf. „-errliche Freundin suchen.“
Wir kämpften uns erfolgreich durch die engen Gänge des Abteils, stiegen aus und sahen uns erst einmal um. Mir fiel wieder ein, dass Anna mir geschrieben hatte, dass man ohne gültige Fahrkarten den Bahnsteig gar nicht betreten konnte und ich teilte dies rasch meinem Freund mit. Seine Gentlemanqualitäten wiederentdeckend schnappte er sich die beiden Koffer und lief voraus zu den Bahnsteigsperren, die diesen Teil des Bahnhofs vom übrigen Bereich trennten und in die man sein Ticket stecken musste, um ihn zu betreten oder zu verlassen. Man konnte selbstverständlich auch einfach versuchen, über sie drüber weg zu springen, so wie Colin es gerade aus alter Gewohnheit tun wollte. Er überlegte es sich jedoch im letzten Moment noch anders, grinste die Dame vom Bahnhofsservice (die sofort dahinschmolz – wer konnte Colins Charme schon widerstehen?) breit an und schob brav sein Ticket in den Automaten, bevor er die beiden Gepäckstücke durch die sich öffnenden Türklappen bugsierte.
Ich zog die Riemen meines Rucksacks fest und griff nach meinem Koffer, doch er wurde mir gleich wieder entzogen.
„Tussis tragen ihre Koffer nicht selber“, tadelte mich Colin und ich sah ihn entsetzt an.
„Ich bin keine Tussi und außerdem sehr wohl fähig, meine Sachen selber zu tragen!“
Es mochte Frauen geben, die es für selbstverständlich hielten, dass man alles außer ihrem Guccitäschchen für sie trug, ich gehörte nicht dazu.
„Über dein Frauenbild müssen wir uns nochmal dringend unterhalten“, murmelte ich. „Junge, Junge, das ist ja wohl –“
„SHADOW!!“ ertönte eine helle Stimme von irgendwoher und dann eine andere, weitaus tiefere: „HIER!! HIER AUF DER ROLLTREPPE!!“
Ich sah mich suchend um und entdeckte etwa zehn Meter vor mir eine wild winkende Person mit hellbraunen Haaren, die mit jedem Stück, das die Rolltreppe sich bewegte, weiter auf uns zusteuerte.
„DA SIND SIE!!“ rief der junge, mir völlig unbekannte Mann und eilte ungeduldig auf uns zu, ein rotblondes Mädchen an der Hand hinter sich herziehend. Night! Da war sie! Meine Anna! Endlich!!
Statt meiner ließ Colin filmreif die Koffer stehen, als sie ihn breit angrinste, und stürmte auf sie zu. Mein hirneigenes Orchester spielte ‚Chariots of Fire‘, sie bewegten sich in Zeitlupe, riefen die Namen des anderen, näherten sich und – der junge Mann an Annas Seite fuhr dazwischen und riss Colin stürmisch an sich, drückte ihm die Luft aus den Lungen, was bei seinem stattlichen Körperbau eigentlich ziemlich schwer war.
Verblüfft sahen wir Mädchen uns an, doch dann wurde auch ich schon das nächste Opfer überschwänglicher Freude und Kandidatin fürs Rippenquetschen.
„Du musst Ben sein“, ächzte ich und er nickte begeistert, noch bevor er mich wieder losgelassen hatte. Ich war mir sicher, dass ich jetzt eine bewundernswerte Wespentaille besaß. Dabei sah mein ‚Formgeber‘ gar nicht so kräftig aus.
Ben war Annas geliebter, ebenfalls in London lebender Bruder und allerbester Freund. Es gab Geschwister, die sich nicht besonders gut verstanden und nicht viel Zeit miteinander verbrachten, nicht viel miteinander teilten; dann gab es Geschwister, die sich sehr mochten, sich oft sahen und sich regelmäßig über die wichtigsten Dinge in ihrem Leben austauschten; und dann gab es Ben und Anna. Anna hatte mir mal geschrieben, dass sie sich oft wie eineiige Zwillinge fühlten, die nur zu unterschiedlichen Zeiten auf die Welt gekommen waren und manchmal nicht einmal Worte brauchten, um zu verstehen, wie sich der andere fühlte. Soweit ich Anna verstanden hatte, wusste Ben alles über Annas und meine Freundschaft. Gut, fast alles, da unsere privatesten Gespräche über Liebe und Sex wohl eher geheim geblieben waren. Doch über alles andere war Ben gut informiert und Anna hatte mir am Abend zuvor versichert, dass er sich genauso darauf freute, uns kennenzulernen, wie sie selbst. So fühlte es sich jetzt auch an.
Leider hatte Colin die Begrüßungsumarmung wohl für eine gute Idee gehalten, denn als ich zu ihm hinüber sah, hatte er gerade Anna im Arm und zeigte ihr mit einem sanftem
Weitere Kostenlose Bücher