Imperium
junge Mädchen schlank und schön am Memelstrand. Sing, sing was geschah? Keines den Brautkranz wand. Keines den Brautkranz wand.
Des Morgens kommen drei Polizisten mit Säbeln und zementieren Engelhardts Entschluß. In Memel hat noch am Abend der Redakteur, der den Nudisten am Strand sehr wohl gesehen, Anzeige erstattet. Da liege ein langhaariger Vagabund in den Nehrungen herum, splitterfasernackt, kaum drei Kilometer südwärts den Dünenstrand hinunter. Der Redakteur habe seine Verlobte geschickt in einiger Entfernung um den Delinquenten herummanövriert, sie im entscheidenden Moment abgelenkt, indem er ihr eine Schar Zugvögel oder dergleichen am Horizont gezeigt habe, und es wäre doch ein Ding der Unmöglichkeit, man müsse ihn festnehmen, nein, betrunken sei er nicht erschienen.
Engelhardt erwacht, lugt aus der windgeschützten Kuhle, die er sich am Abend noch gegraben, und sieht drei Stiefelpaare vor sich stehen, in denen Uniformhosen stecken, leicht fröstelt in ihm noch die Sommernacht, man wirft eine zerlumpte Decke hin und befiehlt in barschestem, litauisch gefärbten Kommandeurston, ihnen nach Memel zu folgen, der Lorbas sei unter Arrest gestellt, Erregung öffentlichen Ärgernisses sei noch das Geringste, weswegen man ihn anzuklagen gedenke.
Einer der Gendarmen, er ist nicht der Hellste, stellt Engelhardt, kaum hat sich dieser berappelt, die kratzende Armeedecke umgewickelt und ist aufgestanden, ein bestiefeltes Bein, so daß er stolpert und erneut nach vorne in den Sand fällt. Boshaftes Gelächter. Im Grunde sind alle drei nicht die Hellsten. Als er so vor ihnen am Boden liegt, steigt ihnen eine animalische Lust an der Unterdrückung zu Kopfe (denn es sind beflissentliche deutsche Untertanen), sie beginnen ihn zu treten und mit Fäusten zu bearbeiten, der Anführer schlägt ihm mit dem Säbelknauf auf den Rücken, da Engelhardt sich zu einem Knäuel zusammengerollt hat, um den Schlägen zu entgehen. Er flüchtet sich in eine weiß schäumende, surrende Ohnmacht.
Nachdem sie ihn ins säubernde Meer getaucht haben, da ihnen mit einem Mal bewußt wird, daß sie Unrechtes begehen und Engelhardt sich nicht mehr rührt, kämmen sie ihm die zerzausten Haare, wischen das immer noch austretende Blut von Mund und Nasenlöchern, ziehen ihm Kittel und Sandalen an, die sie unweit der Sandkuhle entdecken, und verbringen ihn (halb wird er getragen, halb läuft er selbst) auf die Wache nach Memel, wo er, der Landstreicherei und der Unsittlichkeit angeklagt, eine durchaus qualvoll zu nennende Nacht auf einer harten Holzbank verbringt, mit einem Auge stundenlang die hintersten Deckenwinkel der Arrestzelle vermessend (das andere Auge ist zugeschwollen).
Der Redakteur und seine Braut sind noch tagsüber Richtung München abgereist, der Vorfall ist schon fast vergessen, man sitzt sich im Speisewagen des angrenzenden wagon-lit gegenüber, die eisenbahnbedingten Flecken einer in leichtem Übermut bestellten, ganzen Flasche Trollinger färben das Tischtuch violett, die Konversation verläuft nicht eben fließend, sei es aus Müdigkeit oder gar aus bereits jetzt antizipierter, nach Jahren der Ehe einsetzender Langeweile. Der Blick des Redakteurs fällt leicht unenthusiasmiert nach links, durch die sich verdunkelnde, von Minute zu Minute spiegelähnlicher werdende Zugscheibe hinaus, auf die verblassende ostpreußische Ebene, und er wird plötzlich der fast knabenhaft schmalen Schultern des gestern am Strande liegenden, nackten jungen Mannes gewahr, und er erkennt in diesem Augenblick den eigentlichen Grund, weswegen er Anzeige erstattet hat, und daß sein gesamtes zukünftiges Leben von einer schmerzhaften Selbstlüge überlagert sein wird, sein muß, deren Gewaltigkeit alles verfärben wird bis zu seinem Todestag - die noch ungeborenen Kinder, die Arbeit (denn in ihm reifen mehrere Romane), das jetzt noch amüsierte Verhältnis zum Ideal seiner eigenen Bürgerlichkeit und die nun schon einsetzende Abscheu vor den auf dem Speisewagentisch gefalteten, in eleganter Ruhe liegenden Händen seiner geduldig lächelnden Verlobten, die ihrerseits in jahrzehntelanger Ahnungslosigkeit verharren wird, obgleich natürlich ihr eigener Hang, sich mit einer gewissen Unweiblichkeit zu geben und zu kleiden, der jungen Frau vielleicht jetzt schon, am Anbeginn ihrer Beziehung, einen Anhaltspunkt vis-a-vis den tatsächlichen Neigungen ihres Anversprochenen hätte geben können.
August Engelhardt kommt am Nachmittag des nächsten Tages frei;
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