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Imperium

Imperium

Titel: Imperium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Kracht
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die sich nicht durch Abrütteln allein zu Fall bringen ließen.
    Nach Einbruch der Dunkelheit setzte er sich mit Makeli auf den Sandboden seiner Hütte und las dem Jungen im Lichte einer tranigen Kokosöl-Funzel aus einem Buch vor, und obwohl dieser zuerst fast nichts verstand, lauschte er doch aufmerksam dem fremden Klang der Worte, die aus den sachte geblätterten Seiten des Buchs - durch Engelhardts sich dazu bewegende Lippen - Gestalt annahmen; es war eine deutsche Übersetzung von Dickens’ Großen Erwartungen, und allmählich schien sich der junge Insulaner an die fremde Sprache zu gewöhnen und jene allabendlichen Vorlesestunden regelrecht herbeizusehnen.
    Makeli hatte zwar schon oft einem aus einer deutschen Bibel lesenden Prediger gelauscht, doch dies war etwas ganz anderes, denn Engelhardts Laute waren wohlklingender, freundlicher und süßer, das eine oder andere Wort schnappte er auf; am allerliebsten schienen ihm die Beschreibungen des Hauses der verschrobenen Jungfer Miss Havisham, die in ihrem spinnwebbehangenen Schlafzimmer selbst wie eine uralte, misanthropische Spinne saß und mißmutig dreinschauend Besuch empfing. Der Junge versuchte zu verstehen; manche Worte auf Unserdeutsch wiederholend, andere sich selbst ins Pidgin übersetzend, bildeten sich schon nach einigen Wochen des Zuhörens knappe deutsche Sätze auf seinen Lippen.
    Doch dies war Spiel und Zeitvertreib - die Eingeborenen arbeiteten ihrerseits überaus tüchtig: Die Nüsse wurden mit großen Fangkörben eingesammelt, in Scheiben geschnitten und auf gezimmerten Gerüsten, durch ein Regendach aus Palmblättern geschützt, an der Sonne getrocknet, dann in einer prähistorisch anmutenden Mühle, die aus wenig mehr als grob behauenen Felsblöcken bestand, zu Öl gepreßt, das wiederum in Holzfässer gefüllt und mit der Engelhardtschen Segelkanuflotte nach Herbertshöhe verbracht wurde.
    Dort wurde es durch Filtern und Erhitzen verfeinert und in Flaschen abgefüllt, die sich Engelhardt von der allgegenwärtigen Forsayth & Compagnie geliehen hatte. Ab und an ankerte draußen, vor dem weiß bebrandeten Bogen des Riffs, ein Frachtschiff und nahm die unverarbeitete Kopra an Bord. Seine Arbeiter bezahlte Engelhardt wie versprochen pünktlich. Anfangs verlangten sie, daß er ihren Lohn in Muschelgeld oder Tabak ausbezahle, später, als sie erfuhren, was man sich in Herbertshöhe alles anschaffen konnte, mußte es die Mark sein. Um kein deutsches Geld auf seinem Eiland verstecken zu müssen, stellte er ihnen einfache Schuldscheine aus, die er signierte und ihnen zur Einlösung in der Hauptstadt anempfahl. Und alle zwei Monate fuhr er im Wickelrock selbst hinüber und bezahlte, unter den mißbilligenden Blicken der weißgekleideten Pflanzer und ihrer Gattinnen, die Schulden seiner Arbeiter.
     
    IV
     
    Wann tauchte unser Freund eigentlich das erste Mal an die Oberfläche der Weltenwahrnehmung? Allzu wenig ist über ihn bekannt, doch blinken im Erzählstrom, hell unter Wasser blitzenden, flinken Fischen gleich, Personen und Ereignisse auf, deren Existenz er sozusagen flankiert, als sei Engelhardt eines jener kleinen Wesen, die man Labrichthyini nennt, die anderen, größeren Raubfischen die Haut putzen, indem sie sie von Parasiten und Schmutz befreien.
    Wir sehen ihn, abermals in einem Zuge etwa, nun aber von - Augenblick - von Nürnberg nach München reisend, dort hinten ist er doch, stehend, dritter Klasse, die schmale, für sein junges Alter schon recht sehnige Hand auf einen Wanderstock gestützt.
    Das alte Jahrhundert neigt sich unwirklich rasch seinem Ende zu (eventuell hat das neue Jahrhundert auch schon begonnen), es ist fast Herbst, Engelhardt trägt, wie allerorten in Deutschland, wenn er nicht nackt ist, ein langes, helles, baumwollenes Gewand und römisch anmutendes, geflochtenes, nicht aus Tierleder gefertigtes Schuhwerk. Seine Haare, beiderseits des Antlitzes offen getragen, reichen hinunter bis zum Sternum, über den Arm trägt er einen Weidenkorb mit Äpfeln und Pamphleten darin. Kinder, die in der Eisenbahn mitfahren, ängstigen sich erst vor ihm, verstecken sich, ihn beobachtend, auf der Plattform zwischen den Waggons der zweiten und dritten Klasse, dann lachen sie ihn aus. Ein Mutiger bewirft ihn mit einem Stück Wurst, verfehlt ihn aber. Engelhardt liest geistesabwesend murmelnd in einem Fahrplan die ihm noch aus Kindertagen vertrauten Namen der Provinzstädte und blickt dann wieder geradeaus auf die vorbeisausende bayerische

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