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Imperium

Imperium

Titel: Imperium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Kracht
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allerheftigsten Schauern zu entkommen suchen; himmelwärts reckende, triefende, eiserne Kräne allerorten - so empfängt ihn Berlin, jene in den märkischen Sand eingerammte, Reichshauptstadt spielende Provinzmetropole.
    Nachdem er erfahren hat, daß Silvio Gesell, den er hier in Berlin um Rat zur Gründung einer geldfreien, vegetarischen Gemeinschaft angehen wollte, inzwischen nach Argentinien ausgewandert ist, entkommt Engelhardt der kleinen Schar seiner Befreier im Gewusel des Schlesischen Bahnhofs, springt in einen Pferdeomnibus und entledigt sich der Verbände, die ihm das halbe Augenlicht genommen. Er kann wieder sehen, sehr gut sogar, trotz des Regens. Und sein Entschluß steht fest: dieser vergifteten, vulgären, grausamen, vergnügungssüchtigen, von innen heraus verfaulenden Gesellschaft, die lediglich damit beschäftigt ist, nutzlose Dinge anzuhäufen, Tiere zu schlachten und des Menschen Seele zu zerstören, adieu zu sagen, für immer, das wird er tun.
    Ein paar Haltestellen weiter, am Alexanderplatz, lehnt ein durchnäßter Berliner an einer Hauswand und ißt, mesmerisiert kauend, eine jener labberigen Bratwürste. Das gesamte Elend seines Volkes steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die überfettete, gleichgültige Trostlosigkeit, das graue Lamentat seiner borstig geschnittenen Haare, die öligen Wurstsprenkel zwischen seinen groben Fingern - eines Tages wird man ihn so malen, den Deutschen. Engelhardt, ebenso hypnotisiert, fixiert ihn, während der Omnibus durch die Wasserwand vorbeirattert. Für eine Sekunde ist es, als ob ein glühend heller Strahl die beiden verbindet, Erleuchteter und Untertan.
     
    V
     
    Da wir uns nun bemüht haben, von der Vergangenheit unseres armen Freundes zu erzählen, werden wir im Folgenden also, einem ausdauernden und stolzen Seevogel gleich, dem das Überfliegen der Zeitzonen unseres Erdenballs vollends konsequenzlos erscheint, ja diese weder wahrnimmt noch darüber reflektiert, einige Jährchen überspringen und August Engelhardt dort wieder aufsuchen, wo wir ihn vor einigen Seiten verlassen haben; splitternackt am Strande spazierend, an seinem eigenen Strand wohlgemerkt, sich hier und da bückend, ein besonders reizvolles Muschelexemplar auflesend und es in einen Sammelkorb aus Bast gleiten lassend, den er zu diesem Zweck über die Schulter geworfen hat.
    Das Zeitgesetz des Deutschen Reiches, vor einem guten Jahrzehnt in Berlin verabschiedet und sinnigerweise am 1. April, kurz vor Jahrhundertwechsel, in Kraft getreten, sorgte dafür, daß im ganzen Mutterland eine einheitliche Zeit von den Uhren der deutschen Untertanen seiner kaiserlichen Majestät abzulesen war. In den Kolonien indes zählte man die Zeit der jeweiligen Weltzone, während auf dem Eiland Kabakon gewissermaßen eine Zeit außerhalb der Zeit herrschte. Engelhardts Uhr nämlich, die er sich auf einen ihm als Nachttisch dienendes Stück Treibholz gestellt und mit schöner Regelmäßigkeit mittels eines kleinen Schlüssels aufgezogen hatte, war durch die Einwirkung eines einzigen Sandkornes in zeitlichen Verzug geraten; das Körnchen hatte es sich im Inneren der Uhr, zwischen Feder und einem der hundert surrenden Rädchen gemütlich gemacht und bewirkte nun, da es aus hartem, zermahlenem Korallenskelett bestand, eine minimale Verlangsamung im Voranschreiten der Kabakonschen Zeit.
    Gewiß, Engelhardt bemerkte diesen Umstand nicht sogleich, auch nicht nach einigen Tagen, im Grunde mußten erst ein paar Jahre auf Kabakon vergehen, bis sich das Wirken des Sandkornes bemerkbar machte. Die Retardierung war dergestalt, daß die Uhr nicht einmal eine Sekunde am Tag verlor, dennoch nagte und bohrte etwas an Engelhardt, der sich von einer korrekten Zeitangabe so etwas wie einen sicheren Halt im Räume versprach. Er wähnte sich im ätherischen, kosmischen Präsens - müßte er dies aber verlassen, so hieße das für ihn, aus der Zeit zu treten, sprich, wahnsinnig zu werden.
    Daß in der fernen Schweiz ein anderer junger Vegetarier, bei einem Patentamt beschäftigt, just in diesem Moment den theoretischen Unterbau für seine Dissertation zusammentrug, deren Inhalt wenige Jahre später nicht nur das gesamte bisherige Wissen der Menschheit auf den Kopf stellen würde, sondern gewissermaßen die Warte, von der aus man die Welt und dieses Wissen wahrnahm, auch die Zeit, war Engelhardt gleichsam unbekannt.
    Als er also darüber nachdachte, ob seine Uhr nicht etwa langsamer lief - es schien ihm nur so, da er ja keine

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