Imperium
ich ihm auf Verlangen jedes gewünschte Dokument reichen konnte. Die Gerichtsdiener stellten Glabrios kurulischen Stuhl auf - das war das Zeichen, dass die Sitzung eröffnet war. Alles war bereit, nur Verres und Hortensius fehlten noch. Cicero war so gelassen, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er lehnte sich zurück und flüsterte mir zu: »Der hat das hier gesehen und ist gleich wieder abgehauen, was meinst du?« Natürlich kam Verres dann doch noch - Glabrio schickte einen seiner Liktoren, um ihn zu holen. Aber Hortensius gab uns damit bereits einen Vorgeschmack auf seine Taktik, die da lautete, so viel Zeit wie möglich zu verschwenden. Schließlich, vielleicht eine Stunde zu spät, zwängte sich die makellos gekleidete Gestalt des designierten Konsuls unter ironischem Beifall durch die Zuschauermenge. Ihm folgten sein junger Anwaltskollege Scipio Nasica, Catos Nebenbuhler, dann Quintus Metellus und schließlich Verres selbst, dessen Gesicht wegen der Hitze röter als sonst aussah. Für jeden Mann mit einem letzten Rest an Anstand wäre der Anblick des gegen ihn aufmarschierten Opfer- und Klägerheers ein Albtraum aus der Hölle gewesen. Das Monster Verres beugte jedoch lediglich freundlich den Kopf, als begrüße er gute alte Bekannte.
Glabrio rief die Anwesenden zur Ordnung. Bevor Cicero mit seiner Rede beginnen konnte, stand Hortensius auf und kam ihm mit einer Stellungnahme zur Verfahrensordnung zuvor: Nach Cornelischem Recht, erklärte er, sei es einem Klagevertreter erlaubt, bis zu achtundvierzig Zeugen zu benennen. Der Ankläger in diesem Prozess aber habe, zum ausschließlichen Zweck der Einschüchterung, mehr als doppelt so viele mitgebracht. Und dann hob er zu einer einstudierten und geschliffenen Rede über die Wurzeln des Gerichtshofes für Erpressungen an, die eine gefühlte Stunde lang andauerte, bis Glabrio ihm schließlich das Wort entzog und erklärte, das Gesetz beschränke nicht die Zahl der vor Gericht anwesenden Zeugen, es lege lediglich eine Höchstzahl fest, wie viele in den Zeugenstand gerufen werden dürfen. Dann erteilte er wieder Cicero das Wort, doch Hortensius intervenierte mit einem weiteren Kommentar zur Verfahrensordnung. Das Publikum reagierte mit höhnischen Zwischenrufen, doch Hortensius ließ sich nicht beirren und wartete jedes Mal, wenn Cicero endlich mit seiner Rede beginnen wollte, mit einer neuen Verfahrensfrage auf. Und so gingen die ersten Stunden an ärgerliche juristische Spiegelfechtereien verloren.
Es war schon weit nach Mittag, als Cicero zum neunten oder zehnten Mal überdrüssig aufstand und Hortensius endlich sitzen blieb. Cicero schaute ihn an, wartete und breitete dann in gespielter Verblüffung die Arme aus. Gelächter brandete im Forum auf. Hortensius reagierte mit einer gönnerhaften Handbewegung in Richtung Cicero, als wolle er sagen: »Bitte, bitte, keine Ursache!« Cicero verbeugte sich höflich, trat vor und räusperte sich.
Der Zeitpunkt, um eine derart gewaltige Aufgabe in Angriff zu nehmen, hätte kaum ungünstiger sein können. Die Hitze war unerträglich, die Zuschauer waren inzwischen gelangweilt und unruhig, Hortensius blickte ihn mit affektiertem Grinsen an, und es blieben höchstens noch zwei Stunden, bevor das Gericht die Sitzung für heute schloss. Und doch sollten diese Minuten zu den entscheidendsten in der Geschichte der römischen Justiz gehören - ja, es sollte mich nicht wundern, wenn sie sich als maßgeblich erwiesen für die Geschichte der Justiz ganz allgemein.
»Ehrenwerte Richter«, sagte Cicero, worauf ich mich über meine Wachstafel beugte und seine Worte in Kurzschrift festhielt. Ich wartete darauf, dass er weitersprach. Bei seinen großen Reden war es fast noch nie vorgekommen, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was er sagen würde. Ich wartete auf seine nächsten Worte, spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, schaute schließlich nervös auf und sah, wie er sich von mir entfernte. Ich glaubte, er würde sich vor Verres aufbauen und ihn direkt ansprechen wollen, aber stattdessen ging er an ihm vorbei und blieb vor den Senatoren auf der Geschworenenbank stehen.
»Ehrwürdige Richter«, wiederholte er und schaute ihnen offen ins Gesicht. »In dieser schweren politischen Krise eröffnet sich euch die Gelegenheit - nicht durch menschliches Planen, sondern fast als göttliche Fügung -, genau das zu tun, was ihr jetzt am nötigsten habt; etwas, das euch mehr als alles andere dabei helfen wird, die Unbeliebtheit
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