In aller Unschuld Thriller
sicher irgendwelche Bemerkungen seitens ihrer Eltern aufgeschnappt hätten. Aber mit fünf interessierten sich die meisten Kinder nur für jene unschuldigen Dinge, die ihre kleine Welt bevölkerten.
Sie wurde von dem Gefühl überwältigt, ihre Tochter beschützen zu müssen, sie in ihre Arme schließen und alles Böse aus ihrem Leben fernhalten zu wollen. All die Dinge, die Carey gesehen hatte, seit sie fürs Gericht arbeitete … All die Grausamkeiten, von denen sie wusste, dass ein Mensch sie einem anderen völlig grundlos antun konnte … Vor all dem wollte sie ihre Tochter beschützen.
Sie dachte an die beiden Pflegekinder der Familie Haas, die man im Keller gefunden hatte, und fragte sich, ob deren Mutter sich vielleicht dasselbe gewünscht hatte.
Mit langsamen, zögerlichen Bewegungen zog Carey sich aus, ließ die zerrissene Hose und die Seidenbluse einfach auf den Boden fallen, um sie später zu entsorgen. Sie stellte sich unter die Dusche, stöhnte auf, als der warme Wasserstrahl auf ihre geschundene Haut an Händen und Knien prasselte. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, Anka um Hilfe zu bitten, aber dafür war sie dann doch zu verschämt. David hätte bei ihr sein müssen. Selbst wenn er meinte, dass sie das nicht wollte, hätte er wenigstens kommen und ihr seine Hilfe, sein Mitleid, seinen Trost anbieten sollen.
Sie fragte sich, was Kovac gestern nach der Begegnung mit ihrem Mann gedacht hatte. Er war ein guter Polizist, und gute Polizisten durchschauten andere Menschen und das Verhältnis, in dem sie zueinander standen, schnell. Vom ersten Augenblick an hatte er David nicht gemocht und sich auch keine Mühe gegeben, das zu verbergen. Er hatte ihrem Mann im Grunde unterstellt, dass er mit einer anderen Frau zusammen gewesen war, wenn er bei ihr hätte sein sollen. Dass das möglicherweise zutraf, hatte Carey bewusst ignoriert. Und auch das hatte Kovac bestimmt mitbekommen.
Sie streifte eine alte ausgeleierte Jogginghose über und ihren geliebten schwarzen Kaschmirpullover. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass die Medienvertreter noch nicht das Interesse an ihr verloren hatten. Übertragungswagen von allen Fernsehsendern aus der Gegend parkten auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ihre Satellitenschüsseln in den Himmel gerichtet.
Der Streifenwagen, den Kovac versprochen hatte, stand wie ein riesiger Wachhund vor ihrem Haus. Es war nicht das erste Mal, dass Carey Polizeischutz brauchte. Ihr Leben war mehr als einmal bedroht worden, wenn sie als Anklagevertreterin irgendwelche Bandenmorde vor Gericht gebracht hatte. Man gewann nicht gerade neue Freunde, wenn man sich mit solchen Gangstern und ihren mit allen Wassern gewaschenen Anwälten anlegte.
Das hatte sich auch nicht geändert, als sie Richterin geworden war. Ein Prozess endete immer damit, dass die eine Seite unzufrieden oder wütend und verbittert war. Nur die Seite, die gewonnen hatte, betrachtete den Richter mit Wohlgefallen.
Als Carey sich vom Fenster abwandte, wurde ihr plötzlich bewusst, wie still es im Haus war. Kein plärrender Fernseher, in dem morgendliche Zeichentrickfilme liefen. Kein Geplapper aus dem Esszimmer, wo gefrühstückt wurde. Es war zeitig am Morgen, aber Anka war Frühaufsteherin, und Lucy war nie viel später dran, selbst an den Wochenenden nicht.
Sie öffnete die Schlafzimmertür und lauschte. Der Duft von Kaffee stieg ihr in die Nase, aber es war so ruhig, dass sie sogar die Uhr in der Diele unten ticken hörte. Durch die offene Tür zu Lucys Kinderzimmer konnte sie eine Ecke des Bettes sehen, das schon gemacht war. Die Tür zu Ankas Zimmer war geschlossen. Carey klopfte leise an, keine Reaktion.
Dann warf sie einen Blick ins Gästezimmer, in der Erwartung, ein zerwühltes Bett zu sehen. David hatte in seinem ganzen Leben noch kein Bett gemacht oder ein Hemd oder eine Socke vom Fußboden aufgehoben. Wenn er ein Zimmer verließ, dann sah es grundsätzlich so aus, als hätten es Einbrecher auf den Kopf gestellt. Dieses Zimmer allerdings wirkte völlig unbenutzt.
»Hallo?«, rief sie die Treppe hinunter.
Das Haus war leer. Alle waren ausgeflogen, hatten sie ohne ein Wort zurückgelassen, vermutlich dachten sie, sie würde bis in den späten Vormittag hinein schlafen.
Auch wenn sie wusste, dass das die logische Erklärung war, spürte Carey Angst in sich aufsteigen. Eine Reaktion auf den Überfall. Eine vollkommen irrationale Furcht, die sie sogar in einer geschützten Umgebung empfand. Das
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