In allertiefster Wälder Nacht
wenn sie total gefühlsduselig wird. Mitleid brauche ich nicht. Nur ein bisschen Raum zum Atmen.
Ein gutes Haus
Wieder ein verdammter Tag.
Nur werde ich an diesem hier Cal anrufen. Das muss ich nämlich. Ich muss einen Freund finden, weil mir nichts anderes übrig bleibt. Damit mich meine Eltern in Ruhe lassen. Der Drang, wieder ins Bett zu gehen, ist übermächtig. Doch ich ziehe mich an und setze mich an den Tisch mit meinem Saft, einem Joghurt, seiner Nummer und dem Telefon. Wie ein normaler Mensch.
Ich kann das Telefon nicht den ganzen Morgen anstarren. Jetzt oder nie. Es geht ums Ganze. Ha.
Beim vierten Klingeln geht er ran.
»Hier ist Wren Wells …«, sage ich, »… am Apparat.« Filmreifer Anfang.
»Wren.« Ich schwöre, ich höre ihn lächeln. »Toll, von dir zu hören. Du hast wohl mit deinem Dad geredet?«
»Jep«, sage ich und spiele mit meinem Löffel. Ich bin ein Small-Talk-Künstler.
Scheint ihm nicht aufzufallen.
»Wie geht es dir?«
»Hör mal«, sag ich, »ich ruf an, weil mein Dad gesagt hat, du hättest Arbeit, die du erledigt haben möchtest. Er will, dass ich arbeite. Deshalb ruf ich dich an. Wegen der Arbeit.«
Oh, Mann, kann mich auf der Stelle jemand erschlagen? Ein neuer Tiefpunkt. Wenn ich so weitermache, muss ich mir einen Coach nehmen, falls ich vorhaben sollte, wieder in die Welt zurückzukehren und tatsächlich mit anderen menschlichen Wesen zu interagieren.
Er holt Luft. »Jaaa …«, sagt er. »Arbeit, jaaa, nun, vielleicht könntest du rüberkommen, dann reden wir drüber. Ich bin da heute Nachmittag.«
Shit. Shit. Heute Nachmittag.
»Okay.«
Vermutlich klingt das unenthusiastisch, denn er lacht wieder. »Heute früh muss ich weg, aber wir könnten uns gegen drei hier treffen.«
»Ich weiß nicht, wo du wohnst, aber klar, drei geht in Ordnung. Dann kann ich da sein.« Einen Moment überlege ich, ob mein Dad den Truck vielleicht braucht. Ich könnte eventuell dahin joggen.
Er liest meine Gedanken.
»Oder soll ich dich auf dem Rückweg abholen?«
Wenn er mich abholt, hab ich keinen Fluchtweg. Ich werde in seinem Haus festsitzen. Meine Handflächen sind klamm. Ich sag mir, dass ich immer noch nach Hause laufen könnte, wenn ich muss.
»Wo liegt euer Haus?«, frage ich, als ob ich wüsste, wo hier irgendwas ist – abgesehen von der Hauptgeschäftsstraße.
»Diese Straße, die, auf der du warst an dem Tag, als wir … uns kennengelernt haben … Die, die an Carver Cove vorbeiführt? Die führt zu unserem Haus, wenn du bis zum Ende drauf bleibst.«
Diese Straße. Die finde ich, wenn ich zu Fuß durch den Wald gehe.
»Wir sind direkt am Wasser, so wie ihr. Du wirst das Haus erkennen, es sieht aus wie eures.«
»Ich, ähm, bin mir nicht sicher, dass ich weiß, wie man mit dem Auto auf diese Straße kommt«, sage ich. »Ich hab sie gefunden, als ich mit dem Rad über die Waldwege gefahren bin.«
Mein Rad. Ich bin vielleicht blöde. Ich hab es mir nie geholt – oder es ersetzt. Sowie ich mit dem Laufen angefangen habe, habe ich es vergessen.
»Dann ist das abgemacht. Ich komm auf dem Rückweg vorbei und nehm dich mit«, sagt er. »So um Viertel vor drei?«
»Bis dann«, sage ich und lege schnell auf.
Wie komm ich denn dazu, mich mit einem Typen zu verabreden?
Die Erinnerungen fallen mich aus dem Hinterhalt an. Patricks Gesicht. Wie seine Augen aussahen, als ich ihm sagte, dass ich Schluss machen wollte. Völlig ungläubig. Verletzt. Er hat es nicht kommen sehen. Wie sollte er auch? Schließlich hab ich ihn nicht in die Entscheidung einbezogen. Ich hab es für mich getan, weil ich so weit war, Schluss zu machen, nicht weil mit ihm was nicht in Ordnung gewesen wäre.
Ich kneife die Augen zu vor der Erinnerung, aber sie ist kristallklar. Ich kann beinahe hören, wie er meinen Namen sagt. Meine Hände sind eiskalt. Ich gehe in mein Zimmer, zieh die Jeans aus und schlüpfe in meine Laufklamotten. Und bin schon aus der Tür.
Ab und zu schließe ich beim Laufen die Augen. Das ist heikel. Man kann leicht fallen, aber das Licht auf meinen Lidern hat was Faszinierendes. Wie das Ende eines alten Filmes auf einem Projektor oder so. Flackern, Blitzen. Irgendwas daran versetzt mich zurück in das Fotostudio in der Schule. In mein erstes Jahr an der Highschool. An den Tag, an dem Miss Hennessy, meine Lehrerin im Fotokurs, mich gebeten hat, nach dem Unterricht zu ihr zu kommen. Ich saß da, war nervös, während sie alle Rollos hochzog. Von dunkel zu hell. Die Sonne strömte
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