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In allertiefster Wälder Nacht

In allertiefster Wälder Nacht

Titel: In allertiefster Wälder Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy McNamara
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    Euphemismen hasse ich. Von uns gegangen. Frieden finden. Probiert’s mal mit tot . Es ist Winter, und alles ist eher mehr als weniger tot, und es sieht ganz so aus, als würde es so bleiben. Immerwährender Schneefall. Frühling ist unmöglich. Tag für Tag schaufelt Dads Winterdienst uns frei.
    Cals Nummer klebt jetzt am Kühlschrank neben einem kleinen rosa »Während-du-weg-warst«-Zettel von Mary, auf dem steht, dass er angerufen hat. Wieder. Als ich weg war. Das gefällt mir. Ich bin weg. Morgens schau ich drauf, während ich an der Spüle stehe und Toast und Ei esse oder was Mary mir sonst hingestellt hat. Dann ziehe ich meine Winterlaufsachen an und steuere die Waldwege an. Die einzigen menschlichen Fußspuren da draußen sind meine. Schneeschuhe wären hilfreich.
    Schließlich wache ich eines Morgens auf und der Zettel mit Cals Nummer klebt am Badezimmerspiegel. Neben einem anderen Zettel. Auf dem steht in der krakeligen Schrift meines Vaters: Bibliothek. Heute. Ich lehne mich eine Weile an die Spüle und stelle mir vor, dass ich das schaffen kann. Schaffen werde. Wird Zeit, dass ich die Kurve kriege. Ich laufe, dusche, zieh mich an und fahre los, um Lucy Shepherd kennenzulernen, meinen Job anzufangen.
    Die Bibliothek ist ein kleiner eingeschossiger Ziegelbau auf einem Stückchen Land mitten in der Stadt. Links und rechts stehen große alte Bäume und auf allen Seiten sind hohe Bogenfenster. Sieht aus wie die idyllische Kleinstadtbibliothek aus der Filmkulisse. Jeder von uns hat seine Rolle zu spielen, nehme ich an.
    Ms Shepherd sagt kaum was. Ich mag sie. Sie heißt mich mit leiser Stimme willkommen und sagt, heute soll ich mich nur umsehen. Sie scheint zu wissen, dass umsehen so ziemlich alles ist, was ich an meinem ersten Tag verkraften kann. Es ist menschenleer. Ist mir recht. Ich komm mir blöd vor, wie ich um die Bücherstapel rumlaufe, so als würde sie mich beobachten, doch dann werfe ich einen Blick zu ihr rüber. Sie arbeitet an ihrem Schreibtisch und konzentriert sich anscheinend tatsächlich auf irgendwas … aber nicht auf mich.
    Ich verbringe etwa eine Stunde damit, auf ein Handbuch der Koniferen des Nordostens zu starren, doch dann finde ich einen alten, zerfledderten Band mit Gedichten von Philip Larkin. In der Schule habe ich Gedichte geliebt. Hat Meredith wahnsinnig gemacht. Wenn ich eins vorgelesen habe, hat sie immer die Augen verdreht, mich Emo-Girl genannt, und sich dann gleich wieder an ihre Hausaufgaben gemacht, für Bio oder sonst einen staubtrockenen Kurs, in dem sie gerade Spitzenleistungen erbrachte.
    Ich blättere die zerlesenen Seiten des schmalen Bandes durch. Da sind so viele gute drin. Zeilen erheben sich von der Seite, genau die Art Zuspruch, die ich gerade brauche. Die Gedichte haben den Charakter einer Unterhaltung, doch schicksalsergeben, so als würde man mit seiner Freundin zusammen seufzen.
    Ms Shepherd – »Lucy, sag Lucy zu mir« – erzählt mir, dass Larkin einer der großen englischen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen ist. Sie legt mir die Hand auf die Schulter, während sie redet. Zeigt mir sein Gedicht »High Windows«, das ich lese, weil sie direkt neben mir steht. Alle Erwachsenen denken, Jugendliche mögen es, weil darin geflucht wird und weil Sex vorkommt. Ich erzähl ihr nicht, dass ich es in der Elften im Englischkurs gelesen habe.
    Als Lucy weggeht, blättere ich das Buch durch, ich suche nichts Bestimmtes, bis ich auf »Aubade« stoße.
    Ich lese es zweimal.
    Dann noch mal.
    Endlich jemand, der Klartext redet. Nichts mit Lächeln und Lügen. Verhandlungen mit der Verzweiflung. Was ich jetzt über schlaflose Nächte weiß, und Stunden, die uns dem zuführen, das nicht da ist. Dass es kaum von Bedeutung ist, ängstlich zu sein oder tapfer. Das Morgengrauen steigt dennoch immer zum Fenster auf.
    Ich lehne mich ein wenig im Stuhl zurück. Spüre, wie die Spannung in meinen Schultern sich löst. Eine Welle der Erleichterung. Larkin hat es erfasst. Diese Lügen, die wir leben, nur um uns einen Pfad durch die Zeit zu bahnen. Zu schade, dass er tot ist.
    Und so gebe ich am Ende meiner Nicht-Arbeitsschicht nach, bitte Lucy um einen Bibliotheksausweis und leihe das Buch aus. Ich bin bereit, in einer Woche wiederzukommen und nach einem geregelten Zeitplan zu arbeiten. Sie lächelt mich so lieb an, als ich die schweren Türen aufstoße, dass ich beinahe mit dem Buch nach ihr werfe. Ich werd mich nicht lange in diesem kleinen gefakten Job halten,

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