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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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zu inspizieren, suchte die Baumstämme, das Unterholz ab und verbrachte so eine Viertelstunde, während der Briggs ihr aufmerksam zusah. Ihr seine Hilfe anzubieten kam ihm allerdings nicht in den Sinn – jedem sein Job. Annabel folgte den Abdrücken am Boden, wo die Frau gekrochen war, bis hin zum Schilf. Hier war der Boden morastig und teilweise von vermodernden Pflanzenresten bedeckt.
    Ein Wunder, dass sie das überlebt hat, dachte Annabel. Nackt in einer Winternacht, noch dazu am Boden ausgestreckt, kann sie Briggs danken, dass er sie so schnell gefunden hat.
    Auch hier überprüfte sie alles, verschaffte sich zunächst einen Gesamtüberblick, um dann, den Rücken gebeugt, die Nase fast am Boden, weiterzusuchen.
    Stanley Briggs hielt sich abseits, nahm auf einem Felsen Platz und übte sich in Geduld. Die Minuten verstrichen, die junge Frau setzte ihre Suche fort, und er rechnete fast damit, dass sie gleich eine riesige Lupe aus ihrer Tasche ziehen würde. Er drehte sich zum See, diesem trüben Ebenbild des Himmels, und fragte sich, ob er nicht der eigentliche Spiegel der Welt war, der das Grau des Paradieses auf Erden einfing. Und wenn das die Wahrheit wäre? Wenn mit der Zeit das makellose Weiß des Jenseits verdorben und die ursprüngliche Reinheit verschwunden wäre? Nichts ist ewig, nicht einmal die Unschuld, lehrt uns die Bibel … Briggs schüttelte energisch den Kopf.
    Weit entfernt von solchen Zweifeln war Annabel jetzt schon seit einer halben Stunde in ihre Arbeit vertieft. Sie hob ein abgebrochenes Stück Schilfrohr auf und stocherte damit auf der Suche nach Spuren im Erdreich, ohne wirklich daran zu glauben. Du musst es tun, weil du bisher nichts anderes hast. Deshalb war sie hergekommen.
    Und sie musste wieder an den Skalp denken, den der zweiten Frau. Das war ein Indiz an sich. Die Erste war vom Typ her Latino, matter Teint, dunkle Behaarung, die andere war rothaarig. Und dann war da das Sperma des Angreifers, aber wenn er nicht in der Datenbank der Sexualverbrecher verzeichnet war, konnten sie wieder bei null anfangen, und der Skalp einer unbekannten Rothaarigen war in Annabels Augen keine neue Spur. Bei näherer Überlegung war das Ganze überhaupt nichts, es sei denn ein einziger Gräuel. Wie konnte ein Irrer so weit gehen, seinem Opfer die Kopfhaut abzuziehen …
    Annabel hielt inne. Irgendetwas bewegte sich im Schilf zu ihren Füßen. Sie bückte sich und entdeckte den schleimigen Körper eines Frosches.
    Du Ärmste, jetzt fängt du wahrscheinlich schon an, über Frösche zu fantasieren.
    Sie wollte sich gerade wieder aufrichten, als ihr Blick an etwas haften blieb, das sie zunächst für ein gelbes Grasbüschel gehalten hatte. Mit der Stockspitze spießte Annabel das Büschel auf und hob es hoch. Eine rote Kruste kam darunter zum Vorschein.
    Ihr Magen schnürte sich zusammen, ihre Lippen pressten sich aufeinander, und sie wusste nicht mehr, was stärker war, der Abscheu oder der Zorn.
    Sie hatte einen Skalp mit getrocknetem Blut vor sich, einen Skalp mit blondem Haar.
    *
    »Kein Zweifel. Ein drittes Opfer.«
    Annabel stand hinter ihrem Schreibtisch. Die Hände vor der Brust verschränkt, fixierte sie den schwarzen Riesen, der an der Gipssäule mitten im Raum lehnte. Auch Jack Thayer war zugegen, er saß, wie gewöhnlich, auf seinem Schreibtisch.
    »Wissen Sie, was das bedeutet?«, beharrte Captain Woodbine. »Ich will keine solchen Geschichten bei uns. Serienkiller und ähnliches sind Sache der Cowboys vom FBI. Hier habe ich gleich den Polizeichef und am Ende sogar noch den Bürgermeister am Hals!« Und als würde er sich an ein Detail erinnern, wandte er sich unvermittelt an Thayer. »Zunächst einmal haben wir nicht die geringste Gewissheit – vielleicht sind die Mädchen, denen die Skalpe gehören, ja noch am Leben, oder?«
    »Keine Ahnung, Michael.«
    Thayer hob ratlos die Hände.
    »Woher soll ich das wissen? Aber mein kleiner Finger sagt mir: Wenn keine jungen Frauen gemeldet wurden, die skalpiert durch Brooklyn spazieren, dann müssen sie irgendwo eingesperrt sein, meinen Sie nicht?«
    »Wir warten auf die Laborergebnisse«, sagte Annabel. »Unser Fall wird vorrangig behandelt. Die Untersuchungen dürften uns mehr über diese … Skalpe sagen. Mein Gott, was für ein grässliches Wort.«
    Annabel stellte sich diese Frau vor, die nackt über die Straße lief, zwei Skalpe in den Händen – zwei Trophäen, die sie bei ihrem Fluchtversuch wie Beweise des Albtraums hatte mitnehmen

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