In Blut geschrieben
als Einzelgängerin treu und machte sich, getrieben von einer Eingebung, in einem Areal, das außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches lag, auf die Suche.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatten sich die Ereignisse überschlagen: die Anhäufung makaberer Indizien, erste Hinweise und Schlussfolgerungen. Annabel war sicher, dass das Ativan eine brauchbare Spur war.
Sie ging von einer einfachen These aus: Der Angreifer der Unbekannten – der Mann mit den Skalpen – lebte in diesem Viertel. Da sein Opfer nackt durch die Straßen gelaufen und nur in der Nähe der Pergola des Prospect Parks gesehen worden war, lag der Verdacht nahe, dass die Frau von irgendeinem Ort in der Nähe geflohen war, denn sonst wäre sie sicherlich auch anderswo bemerkt worden. Und wenn ihr Peiniger hier wohnte, war zu vermuten, dass er sich seine Medikamente in der Nähe besorgte. Von dieser Idee ausgehend, hatte sie im Branchenverzeichnis alle Drugstores des Viertels herausgesucht und bereits zwei Duane Reades einen Besuch abgestattet, allerdings erfolglos. Im ersten war seit über sechs Monaten kein Ativan mehr verkauft worden, und die Kunden waren zu alt, um verdächtig zu sein. Im zweiten war dieses Medikament seit mehr als einem Jahr nicht ausgegeben worden: Das Kings County Hospital befand sich in unmittelbarer Nähe, und die Patienten versorgten sich dort. Annabel hatte noch drei Adressen, die auf dieser Seite des Parks lagen, doch in Anbetracht der vorgerückten Stunde fürchtete sie, heute nicht mehr fertig zu werden. Sie betrat die CVS Pharmacy, die nächste Adresse auf ihrer liste. Vereinzelte Kunden inspizierten die Regale mit Vitaminpräparaten. Zwei schlecht ausgerüstete Touristen kamen hereingestürmt, um sich mit Lippenbalsam zu versorgen.
Annabel begab sich in den hinteren Teil der Apotheke, wo die verschreibungspflichtigen Medikamente ausgegeben wurden. Das Motto der Kette leuchtete in weißen Lettern auf rotem Untergrund: WIR HELFEN DEN MENSCHEN, LÄNGER BEI BESSERER GESUNDHEIT UND GLÜCKLICHER ZU LEBEN. Wie um das amerikanische Paradox hervorzuheben, lagen darunter in einem Metallregal unzählige Süßigkeiten: Twix, Baby Ruth, Hershey’s, nichts fehlte. Annabel konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und fragte sich, wie jedes Mal, ob es sich um Provokation oder um menschliche Dummheit handelte.
»Tut mir Leid, junge Frau, wir haben geschlossen, kommen Sie morgen zwischen neun und achtzehn Uhr wieder«, erklärte eine Stimme.
Annabel wandte sich um und zeigte dem Verkäufer im weißen Kittel, der hinter seinem Computer stand, ihre Dienstmarke.
»Es ist dringend«, erklärte sie.
»Na dann, was kann ich für Sie tun?«
»Haben Sie in letzter Zeit Ativan verkauft?«
Der Apotheker nickte erstaunt.
»Ja … ein wenig.«
Angesichts seiner Zögerlichkeit fügte Annabel eilig hinzu: »Es ist wichtig, es könnte um mehrere Frauenleben gehen. Bitte, ich brauche diese Informationen.«
»Ja, ich verstehe. Hm … Also ich habe zwei Kunden, die dieses Medikament beziehen, einmal eine Frau, die auf der Straße arbeitet und nicht mehr schlafen kann; seit dem elften September hat sie Angstzustände, ihr Bruder war dort als Feuerwehrmann eingesetzt. Der Zweite ist … nun, wie soll ich sagen, etwas eigenartig. Er nimmt es schon lange, er kommt regelmäßig mit seinem Rezept. Ein nervöser Typ. Wissen Sie, dieses Medikament wird hier selten verkauft, darum erinnere ich mich auch so gut. Warten Sie einen Moment, ich sehe nach, ob wir noch andere Patienten eingeschrieben haben.«
Er tippte auf seiner Tastatur und schüttelte den Kopf, während er las, was auf dem Bildschirm angezeigt wurde.
»Nein, das war in letzter Zeit alles.«
»Und wie sieht der nervöse Typ aus?«
»Er ist eher mager, ein Farbiger. Um ehrlich zu sein, ist er mir ziemlich unsympathisch, er grüßt nicht einmal.« Er wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. »Ah, da ist es ja, er heißt Spencer Lynch. L-Y-N-C-H.«
»Wie der Regisseur?« Angesichts der fragenden Miene des Apothekers winkte Annabel ab. »Haben Sie seine Adresse?«
Der Mann nickte heftig und schrieb einige Worte auf ein Blatt Papier, das er ihr reichte.
»Aber ich möchte keine Schwierigkeiten mit ihm haben, wenn Sie …«
Annabel legte den Zeigefinger auf die Lippen, trat einen Schritt zurück und warf einen kurzen Blick auf das Namensschild an seinem Kittel.
»Ich werde schweigen wie ein Grab, Vince«, flüsterte sie, ehe sie wieder in die kalte Abendluft trat.
Das Handy in der
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