Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
Vom Netzwerk:
hätte sich kein Cop des NYPD, des New York Police Department, entgehen lassen. Sie verkörperte alles, was ein Detective zu bekämpfen wünschte, so paradox das erscheinen mochte.
    »Nichts ist anfälliger als das Gedächtnis eines Zeugen, Captain. Die Zeit richtet ihren Schaden an, deshalb sollten wir uns besser gleich auf den Weg machen«, meinte Annabel und deutete auf ihre Uhr. »Es ist ja noch nicht so spät.«
    Sie und Thayer erhoben sich, während Woodbine der Form halber leise protestierte. Lieutenant Roy Salvo trat, ohne zu klopfen, ein und legte ein Blatt Papier auf Annabels Schreibtisch.
    »Ein Fax vom Methodist Hospital. Ich glaube, einer der Ärzte hat ein Faible für dich. Er schickt dir das Rezept für eine Mixtur«, kommentierte er mit einem Lächeln.
    Annabel überflog das Papier; es war das Ergebnis der Laboranalyse. Dr. Darton glaubte, die Substanz festgestellt zu haben, die die Unbekannte geschluckt hatte – Ativan. Dieses Medikament wurde gegen Angstzustände und Schlaflosigkeit verschrieben. Der Arzt erklärte, dass es sich um ein recht starkes Mittel handele. Die empfohlene Menge des Wirkstoffs, Lorazepan, betrage ein Milligramm. Die Unbekannte hatte aber etwa vier Milligramm eingenommen, womit der stärkste Mann acht Stunden in Tiefschlaf, wenn nicht gar ins Koma fiel.
    »Das ist doch schon mal was für den Anfang!«, rief Woodbine. »O’Donnel, Sie gehen der Sache auf den Grund. Stellen Sie mir eine Liste mit den Ärzten zusammen, die dieses Ativan verschrieben haben, außerdem ihre Patienten – alles, was Sie im Bereich Prospect Park finden, angefangen mit dem Viertel Flatbush. Und dass die Ihnen bloß nicht mit der ärztlichen Schweigepflicht kommen! Erklären Sie ihnen die Situation, und setzen Sie alle Mittel ein, die Ihnen richtig scheinen. Sie sehen ja, was dabei herauskommt, und falls Sie Hilfe brauchen, können Sie immer noch im 70. und 71. Revier anfragen, das ist deren Zuständigkeitsbereich.«
    »Sie sind einfach zu gütig, Captain«, entgegnete Annabel.
    »Was Sie nicht sagen. Aber jetzt macht euch auf die Socken; ich möchte nicht, dass heute Nacht ein weiterer Skalp auftaucht. Ich schicke euch sofort die vier anderen. Thayer, du leitest diese Ermittlung.«
    Er drückte seine Zigarette in einer halb leeren Getränkedose aus und zog, als er den Raum verließ, den Kopf unter dem Türstock ein.

    Annabel und Jack Thayer eilten die schmale Treppe des 78. Reviers hinunter auf die Straße.
    »Ich bin nicht sicher, dass dieses Ativan eine verlässliche Spur ist«, meinte Jack. »Der Typ kann sich das Zeug schon vor Ewigkeiten und bei jedem beliebigen Arzt dieser verdammten Stadt besorgt haben, vielleicht sogar in einem Krankenhaus oder im Staat New Jersey. Falls sie überhaupt mit dir kooperieren wollen, kann es Tage, ja Wochen dauern, bis du irgendein Ergebnis hast – oder eben auch nicht. Das ist eine Sackgasse. Lass das lieber erst mal sein und komm mit.«
    Annabel kannte Jacks Vorgehensweise. Er stimmte dem Captain, um keine Zeit zu verlieren, zunächst zu, aber wenn er eine Idee im Kopf hatte, ließ er sich nicht davon abbringen. Er führte seine Untersuchung, wie es ihm passte, nur Schnelligkeit und das Ergebnis zählten.
    »Ich habe eine bessere Idee«, erwiderte sie. »Wie du schon sagst, der Weg über die Ärzte ist Zeitverschwendung. Ich werde es anders versuchen.«
    Sie zwinkerte ihm schelmisch zu, zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und kuschelte sich in das Futter des dicken Leders.
    Draußen fielen weiter dicke weiße Schneeflocken, die der Wind nach Belieben davontrug.
----
    1 Die Holländer kauften den Indianern die Insel Manhattan für 24 Dollar ab.

6
    Schneematsch verwandelte die Bürgersteige zu beiden Seiten der Flatbush Avenue in eine glitschige Rutschbahn, auf der sich die Neonbeleuchtung der Geschäfte trübe spiegelte.
    Annabel drängte sich entschlossen durch die frühabendliche Menschenmenge. Billigläden reihten sich aneinander, eine endlose Kette von Uhren- und Klamottengeschäften, von Delis und Snackbuden, deren Fenster mit einer bräunlichen Fettschicht überzogen waren. Eigentlich hätte sie Jack in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel begleiten sollen, denn ihre afroamerikanischen Ursprünge – durch das Blut ihrer Eltern zwar verwässert – waren noch deutlich erkennbar und lösten leichter die Zungen als das Auftauchen eines weißen Polizisten mit angespannten Gesichtszügen und lebhaften Augen. Dennoch blieb sie ihrem Ruf

Weitere Kostenlose Bücher