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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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einen Hand, Spencer Lynchs Adresse in der anderen, bahnte sich Annabel ihren Weg durch den Menschenstrom, so schnell sie konnte, aber ohne zu rennen.
    »Jack, die Adresse von dem Typen passt – gleich neben der Kreuzung Parkside und Ocean Avenue, auf derselben Seite wie der Lebensmittelladenbesitzer, der die Frau an diesem Abend hat fliehen sehen. Er könnte es sein, er heißt Spencer Lynch.«
    »Überstürz nichts, wir werden uns das ansehen, dem Kerl einige Fragen stellen und dann weiter entscheiden, okay?«
    »Aber wenn er diese Mädchen immer noch bei sich hat? Wenn er merkt, dass die Polizei ihn aufgespürt hat, könnte er sie umbringen.«
    »Jetzt geh erst mal hin und warte auf mich. An der Ecke ist ein McDonald’s, geh hin und entspann dich ein bisschen. Ich muss noch ein paar Leute aufsuchen, in zwei Stunden bin ich da.«
    Annabel versuchte, die Dinge zu beschleunigen, aber Thayer blieb hart, und sie beendeten das Gespräch. Sie war übererregt, das Adrenalin breitete sich in ihrem Körper aus und hielt sie in Schwung. Kurz darauf war sie bei der Adresse angekommen und trat auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig vor einen öffentlichen Fernsprecher. Sie tat so, als würde sie eine Nummer wählen, zog ein Notizheft heraus und schrieb irgendetwas auf. Immer Haltung bewahren, sagte sie sich, selbst wenn man sich unbeobachtet glaubt, kann man nie wissen. Sie warf einen Blick auf das Eckhaus am Parkside Court, in dem Lynch wohnte. Es war ein dreistöckiger ockerfarbener Bau mit breitem Gesims und einer rostigen Außentreppe, die sich vom Dach bis zu einem leer stehenden jamaikanischen Restaurant im Erdgeschoss zog. Alle Fenster waren mit Plastikplanen abgedeckt oder mit Brettern vernagelt, und eine Sicherheitsabsperrung grenzte eine Baustelle ab, davor ein Lattenzaun mit der Aufschrift BETRETEN VERBOTEN . Offensichtlich war das Haus seit Wochen unbewohnt.
    »Verdammt, das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein«, murmelte Annabel.
    Das Verbotsschild, das an der Absperrung lehnte, entlockte der jungen Frau ein bitteres Lächeln. Reglos stand sie vor dem Lichterstrom der vorbeifahrenden Autos und überlegte. Jack würde erst in zwei Stunden hier sein, er könnte ihr dann helfen, noch einmal die Leute in den benachbarten Geschäften zu befragen, zumindest in denen, die zu dieser späten Stunde noch nicht geschlossen wären. Sie schnalzte mit der Zunge und fluchte innerlich, ehe sie in den benachbarten Schnellimbiss trat. Sie bestellte einen Käsekuchen und überbrückte die Wartezeit mit mehreren Tassen Kaffee.
    Die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete sie die Passanten und hielt nach ihrem Kollegen Ausschau, der bald kommen müsste.
    Annabels Blick fiel auf einen Mann mit einer Papiertüte. Er stand vor dem unbewohnten Haus und blickte nervös nach rechts und nach links. Er war farbig, ziemlich groß und wirkte eher hager. Sie ließ ihn nicht aus den Augen und fragte sich, was das Theater sollte. Sein Verhalten war nicht normal, er führte etwas im Schilde. Das gibt’s doch nicht, was hat der vor? Der Mann drückte die Tüte an sich und schob sich an der am schlechtesten beleuchteten Stelle durch eine Lücke im Zaun.
    Bei Annabel läuteten alle Alarmglocken.
    Er entsprach der Beschreibung, Aussehen, Hautfarbe, das verdächtige Verhalten – alles passte, und vor allem hatte er diskret ein leer stehendes Gebäude betreten, das die Adresse des Verdächtigen war! Was brauchte man mehr? Annabel glaubte nicht an eine Häufung von Zufällen.
    Himmel! Das ist meine Chance.
    Überfüttert mit Geschichten, die ihr Mann aus allen Teilen der Welt mitgebracht hatte, war Annabel zu der Überzeugung gelangt, dass jeder Mensch über ein gewisses Potential an Glück verfügte, das sich im Laufe seines Lebens einstellte. Und das war soeben auch bei ihr geschehen.
    Die Chance meines Lebens, sagte sie sich. Eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen darf.
    Sie sah auf ihre Uhr, Jack würde bald da sein. Sie wählte seine Handynummer. Die Mailbox. Entweder war er mit seinen Befragungen noch nicht fertig, oder er befand sich in der U-Bahn. Sie zögerte. Aber wenn der Typ durch den Hinterausgang verschwindet, entwischt er mir. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen und nagte an ihrer Lippe.
    Annabel schloss kurz die Augen.
    Verdammt, dann bin ich eben verrückt.
    Sie war entschlossen.
    Sie legte eine Zehn-Dollar-Note auf die Theke, lief über die Straße und schob sich nun ihrerseits hinter die

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