In Blut geschrieben
das. Rindfleisch aus Kansas, Kalbfleisch aus Tennessee, man hat die Wahl … Und kürzlich habe ich es mit einer ganzen Familie probiert«, erklärte er mit provozierender Stimme.
Er verstummte, und Annabel dachte schaudernd an die Fingerglieder des Kindes.
»Ich bin sicher, Sie verstehen, was ich meine … Ich habe sie bei meinem Freund Bob gelassen. Eine Platzfrage. An dem Abend, an dem ich Ihnen einen Besuch abgestattet habe, habe ich einen kleinen Umweg gemacht, um bei ihm ein paar Fingerstücke abzuschneiden … Ich hoffe, das hat Sie aufgewühlt. Mir Ihre Adresse zu beschaffen war übrigens kein Problem. Ich muss zugeben, als ich Sie unter der Dusche gesehen habe, hat mich schon die Lust gepackt, ihre Haut so … zart, die Versuchung war groß. Doch das wäre natürlich eine Riesendummheit gewesen, all die Spuren, die ich hinterlassen hätte, außerdem ist Vergewaltigung nicht mein Ding, das war eher Lucas’ Spezialität.
Trotzdem habe ich an diesem Abend einen Fehler gemacht. Wären Sie aufmerksamer gewesen, hätten Sie festgestellt, dass die Schrift auf dem Spiegel nicht mit der auf den Klebezetteln identisch war. Das war vielleicht mein einziger Patzer, Gott sei Dank nur ein kleiner.«
Annabel schüttelte den Kopf. Der Typ war wirklich wahnsinnig.
»Sie sind ja verrückt …«
»Ah, hören Sie doch auf! Ich habe unsere moderne Welt nicht geschaffen, also machen Sie mich nicht verantwortlich! Ich bin nur ein Produkt dieser Gesellschaft. Was glauben Sie denn? In diesem Land hat heutzutage ein Achtzehnjähriger im Fernsehen mehr als achtzehntausend Morde gesehen, in Europa kann man wöchentlich etwa zwei- bis dreihundert Tote auf der Mattscheibe betrachten. Wir sind beherrscht von der Jagd nach Konsum, nach Ästhetik und auch nach Geld. Wer Geld hat, kann Schönheit und sogar Jugend erwerben. Seit 1999 kann man per Internet Eizellen kaufen, man orientiert sich an perfekt gebauten Models, man kann sich über ihre Körpermaße, ihren Gesundheitszustand, die familiäre Vorgeschichte informieren und dann ihre Eizellen bestellen! Der Körper ist nicht mehr als ein kommerzielles Accessoire im Dienste des Marketings. Warum sollte also gerade ich darauf verzichten? Man muss Vorreiter, man muss innovativ sein, muss konsumieren und produzieren. So bin ich erzogen worden, allerdings nicht durch meine Eltern, sondern durch Fernsehen, Zeitungen, Werbung, Plakate auf den Straßen und durch die Aussagen der Erwachsenen. Meine ganze Ausbildung war so ausgerichtet. Das kann mir jetzt keiner vorwerfen! Seht nur, Papa, Mama, ich hab’s geschafft. Ich bin ein gemachter Mann! Ich bin ganz oben, allen anderen Menschen überlegen.«
Er unterbrach sich, holte tief Luft und fuhr fort: »Und Sie … Sie sind auch nicht besser als die anderen!«
Trotz der Schmerzen stieß Annabel hervor: »Warum? Weil ich kein Menschenfleisch esse?«
Statt zu antworten, brach Caliban in schauriges Lachen aus.
72
Sobald er die Zahlstelle des Holland Tunnel passiert hatte, gab Brolin kräftig Gas, und die Tachonadel kletterte steil nach oben.
Nachdem er herausgefunden hatte, wer der neue Besitzer des Morris-Kanal-Museums war, hatte er sich die Adresse notiert und im Internet eine Straßenkarte konsultiert. Dann war er buchstäblich hinausgestürzt auf der Suche nach einer ruhigen, wenig beleuchteten Straße, um sich dort ein Auto auszuleihen. Die Zündung kurzzuschließen hatte ihn einige Nerven gekostet, doch schließlich war der Motor angesprungen.
Er war dem Mörder bereits begegnet. Er kannte Caliban.
Eigentlich lag es auf der Hand. Caliban trieb sein Unwesen in seinem »Revier«, denn ständige Fahrten ans andere Ende des Bundesstaates wären mit seinem Beruf und seinem makaberen »Hobby« nicht zu vereinbaren gewesen. Und im Zusammenhang mit Rachel Faulets Entführung war er dann dem Privatdetektiv begegnet. Eric Murdoch.
Brolin erinnerte sich an einen Mann von imposanter Statur und muskulösem Körperbau, der im Laufe der Jahre Speck angesetzt hatte. Jetzt ahnte Brolin, warum.
1998 hatte Murdoch das Morris-Kanal-Museum für einen Spottpreis erstanden. Es handelte sich um ein altes baufälliges Gebäude, dessen Besonderheit das Untergeschoss war. Als der Kanal noch existierte, waren zur Überwindung der Höhenunterschiede Schiffsrampen eingerichtet worden. Die Frachtkähne wurden von einer Kette gezogen, die durch ein ausgeklügeltes, mit Wasserkraft betriebenes unterirdisches Turbinensystem bewegt wurde, vergleichbar einem
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