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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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für Sam und plötzlich änderten sie die Richtung, genau wie ich es gewollt hatte. Und die ganze Zeit, während sie dahinrannten, und obwohl das gesamte Rudel die drohende Gefahr spürte, hörten Sam und Grace nicht auf, sich zu berühren, immer wieder stupsten sie einander an, drängte sich einer gegen den anderen. Alles, was ihre Beziehung als Menschen ausmachte, übertrug sich auf ihr Verhalten als Wölfe.
    Aber es gab ein Problem: Nördlich des Boundary Wood erstreckte sich eine weitläufige Ebene, auf der nichts als dürre Sträucher wuchsen. Auf diesem Gelände waren die Wölfe leichte Beute, bevor sie im nächsten Waldstück verschwinden konnten. Ich war schon öfter daran vorbeigefahren und es war mir nie allzu groß vorgekommen. Aber da hatte ich auch im Auto gesessen und war über neunzig Stundenkilometer gefahren. Jetzt waren wir zu Fuß unterwegs und bewegten uns mit zehn, vielleicht zwölf Kilometern in der Stunde. Und der untere Rand des Horizonts färbte sich immer deutlicher rosa, so als spielte die Sonne bereits mit dem Gedanken aufzugehen.
    Zu früh. Oder vielleicht waren wir zu spät. Vor uns erstreckte sich meilenweit die Ebene. Nie im Leben würden die Wölfe es bis in den Schutz der Bäume schaffen, bevor die Sonne aufging. Meine einzige Hoffnung war, dass sich der Abflug des Helikopters irgendwie verzögerte. Dass er ganz auf der anderen Seite des Boundary Wood startete und seine Insassen sich erst mal wunderten, warum es dort keine Wölfe mehr zu geben schien. Wenn wir Glück hatten, würde es so ablaufen. Wenn die Welt gerecht war.

KAPITEL 71
ISABEL
    Als ich den VW verlassen auf dem Parkplatz am See fand, dämmerte es bereits. Ich verfluchte Cole dafür, dass er Sams Handy liegen und das Auto stehen lassen hatte, im nächsten Moment aber fielen mir die vielen Wolfsspuren auf dem taufeuchten Boden auf. Mehr Pfotenabdrücke, als ich je gesehen hatte. Wie viele Wölfe waren es gewesen? Zehn? Zwanzig? Das Gebüsch war niedergedrückt, wo sie alle gewartet hatten, dann führten die Spuren zurück zur Straße. Genau wie es in dem Notizbuch gestanden hatte. Die 169 hinauf.
    Ich war so aufgekratzt darüber, auf der richtigen Fährte zu sein, dass ich zuerst gar nicht begriff, was es bedeutete, dass ich die Abdrücke so klar sehen konnte. Die Sonne ging auf – uns lief die Zeit davon. Nein, die Zeit war uns schon längst davongelaufen, es sei denn, die Wölfe hatten den Boundary Wood bereits weit hinter sich gelassen. Direkt an der Stelle, wo die 169 aus dem Wald und Mercy Falls herausführte, lag ein großes, hässliches Stück Brachland. Wenn der Hubschrauber die Wölfe dort erwischte, waren sie meinem übereifrigen Vater und seinem Gewehr hilflos ausgeliefert.
    In meinem Kopf wiederholte sich ständig derselbe Gedanke: Alles würde in Ordnung kommen, wenn ich nur die Wölfe fand. Also raste ich in meinem Geländewagen die Straße hinunter. Plötzlich merkte ich, dass mir eiskalt war, dabei war es nicht mal besonders frostig, nur ganz normal morgendlich kühl, aber mir wurde und wurde einfach nicht warm. Ich drehte die Heizung bis zum Anschlag auf und klammerte mich ans Lenkrad. Kein anderes Auto kam mir entgegen – wer sollte auch um diese Zeit auf so einer Provinzstraße unterwegs sein, außer den Wölfen und den Leuten, die sie jagten? Ich war mir nicht sicher, zu welcher der beiden Kategorien ich gehörte.
    Und dann, mit einem Mal, sah ich die Wölfe. Im schummrigen Licht der Morgendämmerung waren sie nur dunkle Flecken vor dem Hintergrund aus Gestrüpp und nahmen, erst als ich näher kam, unterschiedliche Schattierungen von Grau und Schwarz an. Und natürlich befanden sie sich mitten auf dem brachliegenden Gelände, in Zweier- und Dreiergrüppchen zu einer langen, ordentlichen Kette aufgereiht, wie auf dem Präsentierteller. Als ich noch weiter herankam, sah ich ganz vorne an der Spitze Grace als Wolf – ihre Körperform, ihre langen Beine und die Art, wie sie den Kopf hielt, hätte ich niemals verwechseln können – und neben ihr Sam. Es war auch ein weißer Wolf dabei und einen kurzen, verwirrten Moment lang dachte ich, es wäre Olivia. Doch dann fiel mir alles wieder ein und ich begriff, dass es Shelby sein musste, die verrückte Wölfin, die uns vor so langer Zeit zur Klinik gefolgt war. Die anderen Wölfe kannte ich nicht. Sie waren Fremde, einfach Wölfe.
    Und da, weit vor mir, rannte ein Mensch am Straßenrand entlang. Die tief stehende Sonne dehnte seinen Schatten um das

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