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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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in Minnesota gemessen. Wenn man nicht gerade nackt und verirrt mitten im Wald stand.
    Mir tat alles weh. Meine Knochen fühlten sich an, als wären sie wie Knete zu Würsten gerollt worden, dann wieder zu Knochen geformt und dann wieder zu Würsten. Meine Haut juckte, besonders an meinen Knöcheln, Ellbogen und Knien. Auf einem Ohr hörte ich ein schrilles Pfeifen. Ich fühlte mich benebelt und orientierungslos. Und ich hatte das seltsame Gefühl, dass das alles hier ein Déjà-vu war.
    Mein Unbehagen wurde noch größer, als mir klar wurde, dass ich nicht bloß nackt und verirrt mitten im Wald stand, sondern das auch noch ganz in der Nähe der Zivilisation. Während mich träge Fliegen umschwirrten, richtete ich mich auf, um mich umzusehen. Gleich hinter den Bäumen konnte ich die Rückseiten einer Reihe kleiner Häuser erkennen. Zu meinen Füßen lag eine zerfetzte schwarze Mülltüte, ihr Inhalt über den Boden verstreut. Es sah verdächtig danach aus, als wäre das mein Frühstück gewesen. Darüber wollte ich lieber nicht allzu genau nachdenken.
    Eigentlich wollte ich über nichts allzu genau nachdenken. Meine Gedanken kehrten stoß- und ruckweise zu mir zurück, erst unscharf, dann deutlicher, wie halbvergessene Träume. Und während sich mein Bewusstsein langsam neu formte, erinnerte ich mich an diesen Moment – den benommenen Moment, in dem ich wieder zum Mensch wurde. Immer und immer wieder. In einem Dutzend verschiedener Umgebungen. Allmählich wurde mir klar, dass dies nicht meine erste Verwandlung in diesem Jahr war. Und alles, was dazwischenlag, hatte ich vergessen. Na ja, fast alles.
    Ich kniff die Augen zu. Ich konnte sein Gesicht sehen, seine gelben Augen, sein dunkles Haar. Ich erinnerte mich daran, wie perfekt meine Hand in seine passte. Ich erinnerte mich daran, wie ich neben ihm in einem Auto saß, das es, so sagte mir ein Gefühl, nicht mehr gab.
    Aber ich erinnerte mich nicht an seinen Namen. Wie hatte ich seinen Namen vergessen können?
    Irgendwo in der Ferne quietschten Autoreifen. Das Geräusch wurde langsam leiser, nachdem es mich passiert hatte, eine Warnung, die mir ins Gedächtnis rief, wie nah die wirkliche Welt tatsächlich war.
    Ich öffnete die Augen. Ich konnte jetzt nicht an ihn denken. Ich durfte es nicht. Es würde zurückkehren. Es würde alles zurückkehren. Im Moment musste ich mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
    Ich hatte mehrere Möglichkeiten. Entweder ich zog mich in den warmen, frühlingshaften Wald zurück und hoffte darauf, dass ich mich bald wieder in einen Wolf verwandeln würde. Das Problem dabei war jedoch, wie ganz und gar menschlich ich mich gerade fühlte. Dann blieb also nur noch die zweite Möglichkeit, mich dem Erbarmen der Menschen auszuliefern, die in dem kleinen blauen Haus direkt vor mir lebten. Schließlich hatte ich mich auch schon an ihrem Müll bedient und, wie es aussah, an dem ihrer Nachbarn gleich mit. Doch auch diese Möglichkeit war nicht unproblematisch. Denn selbst wenn ich mich im Moment durch und durch menschlich fühlte, wer wusste schon, wie lange das anhalten würde? Außerdem war ich nackt und kam geradewegs aus dem Wald. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das erklären sollte, ohne im Krankenhaus oder auf der Polizeiwache zu landen.
    Sam.
    Plötzlich fiel mir sein Name wieder ein und mit ihm tausend andere Dinge: schüchtern in mein Ohr geraunte Gedichte, die Gitarre in seinen Händen, die Form des Schattens unter seinem Schlüsselbein und wie seine Finger beim Lesen die Seiten eines Buchs glatt strichen. Die Farbe der Wände in der Buchhandlung, der Klang seiner Stimme, wenn er mir über das Kissen etwas zuflüsterte, eine Liste mit guten Vorsätzen für jeden von uns. Und schließlich der Rest: Rachel, Isabel, Olivia. Tom Culpeper, der mir und Sam und Cole einen toten Wolf vor die Füße warf.
    Meine Eltern. Oh Gott, meine Eltern. Mir fiel wieder ein, wie ich in ihrer Küche stand und mich mit ihnen über Sam stritt, während der Wolf aus mir hervorzubrechen drohte. Wie ich meinen Rucksack voller Kleider stopfte und mich zu Becks Haus davonstahl. Wie ich fast an meinem eigenen Blut erstickte …
    Grace Brisbane.
    Das alles hatte ich als Wolf vergessen. Und ich würde es wieder vergessen.
    Ich sank in die Knie, weil das Stehen mir plötzlich zu schwierig erschien, und schlang die Arme um meine nackten Beine. Eine braune Spinne krabbelte über meine Zehen, bevor ich Zeit hatte zu reagieren. Über mir zwitscherten Vögel.

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