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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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zwischen uns hin und her, wie er spielte, wie er jagte, wie er mit dem Rudel lief.
    Ich sprang auf ihn zu, den Schwanz aufgestellt, die Ohren gespitzt, begeistert und zitternd vor Aufregung. Er sandte mir ein so starkes Bild, dass ich abrupt stehen blieb. Es waren die Bäume um uns, die weißen Stämme mit den schwarzen Striemen an den Seiten, fallende Blätter, dazwischen standen Menschen.
    Ich warf ihm ein anderes Bild zurück: wie ich hierhergerannt war, um ihn zu finden, wie ich seiner Stimme gefolgt war, um ihm noch näher zu kommen.
    Doch er schickte mir wieder dasselbe Bild.
    Ich verstand es nicht. War das eine Warnung – kamen diese Menschen hierher? Oder war es eine Erinnerung? Hatte er sie gesehen?
    Das Bild verschwamm, veränderte sich: ein Junge und ein Mädchen, sie hielten Blätter in den Händen. Es war durchtränkt mit Sehnsucht, Wehmut. Der Junge hatte die Augen meines Wolfs.
    Ein Schmerz keimte in mir auf.
    Grace.
    Ich winselte sacht.
    Ich verstand noch immer nicht, aber nun spürte ich ein vertrautes Stechen von Verlust und Leere in mir.
    Grace.
    Dieser Laut bedeutete nichts und gleichzeitig alles. Mein Wolf kam behutsam auf mich zu, wartete darauf, dass sich meine Ohren wieder aufstellten, bevor er mir das Kinn leckte und meine Ohren und die Schnauze beschnupperte. Es war, als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet, dass er zu mir kam; ein freudiger Schauder durchlief mich. Ich konnte nicht aufhören, mich an ihn zu pressen, mein Gesicht an seine Wange zu schmiegen, aber das war in Ordnung, denn er ließ genauso wenig von mir ab. Unsere Zuneigung erforderte diese Berührungen.
    Jetzt, endlich, sandte er mir ein Bild, das ich verstand: uns beide, die Köpfe zurückgeworfen, wie wir gemeinsam sangen und die anderen Wölfe aus dem gesamten Wald zusammenriefen. Es vermittelte Dringlichkeit, Gefahr. Beides Dinge, mit denen ich vertraut war.
    Er legte den Kopf in den Nacken und heulte. Es war ein langes, klagendes Jaulen, traurig und glockenklar, und es half mir, dieses Wort aus seinen Bildern etwas besser zu verstehen. Grace. Nach einem Augenblick öffnete ich das Maul und heulte mit ihm.
    Gemeinsam klangen unsere Stimmen lauter. Die anderen Wölfe drängten sich um uns, stupsten uns mit den Nasen an, winselten und stimmten schließlich mit ein.
    Es gab keinen Ort im Wald, an dem man uns nicht gehört hätte.

KAPITEL 68
COLE
    Es war fünf Uhr fünfzehn. Ich war so müde, dass ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen konnte zu schlafen. Es war die Art von Müdigkeit, bei der einem die Hände zittrig wurden und die Augen Lichter am Rande des Blickfelds wahrnahmen, Bewegungen, wo keine waren.
    Sam war nicht da.
    Wie seltsam die Welt doch war: Ich war hierhergekommen, um mich in allem zu verlieren, und hatte stattdessen alles verloren außer mir selbst. Vermutlich hatte ich einen Molotowcocktail zu viel über Gottes Gartenzaun geworfen. Immerhin wäre es eine geradezu göttlich ironische Strafe, mich erst lernen zu lassen, etwas anderes als mich selbst wichtig zu nehmen, nur um am Ende alles zu zerstören, was mir wichtig war.
    Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn das hier nicht funktionierte. In diesem Moment ging mir auf, dass ich irgendwann tatsächlich angefangen hatte, daran zu glauben, dass Sam es schaffen könnte. Es hatte keinen Teil von mir mehr gegeben, keinen noch so winzigen, der nicht davon überzeugt gewesen war, und darum war dieses Gefühl, das nun in meiner Brust rumorte, wohl so etwas wie Enttäuschung oder Ernüchterung.
    Ich konnte nicht zurück in dieses leere Haus. Ohne die Menschen darin war es nichts wert. Und zurück nach New York konnte ich auch nicht. Das war schon seit Langem nicht mehr mein Zuhause. Ich war ein Heimatloser. Irgendwann war ich wohl zu einem Teil des Rudels geworden.
    Ich blinzelte, rieb mir die Augen. Wieder diese Bewegungen am Rand meines Blickfelds, irgendwelche Formen, die dort vorbeischwebten, Trostpreise für den Mangel an tatsächlich Sichtbarem in diesem trüben Licht. Ich rieb noch einmal und legte dann den Kopf aufs Lenkrad.
    Aber diese Bewegungen waren echt gewesen.
    Es war Sam, der mit seinen gelben Augen wachsam das Auto musterte.
    Und hinter ihm die anderen Wölfe.

KAPITEL 69
SAM
    Alles an dieser Situation war falsch. Wir befanden uns auf offenem Gelände, zu dicht beieinander, zu nah an diesem Auto. Mein Instinkt befahl meinem Nackenfell, sich aufzustellen. Das Mondlicht ließ den Nebel leuchten, erhellte die Welt künstlich. Ein paar

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