In den Häusern der Barbaren
dank ihrer Gelassenheit mit der Umgebung verschmolz, eine von vielen mexicanas auf diesen Straßen, wo es so viele Menschen mit Gesichtern und Geschichten wie der ihren gab. So machte man das. Man musste sich benehmen, als ob einem die Stadt gehörte. Mit dem Schritt einer geschmeidigen Frau, die ihren täglichen Spaziergang macht. Das kann ich auch, einfach quer durch die Stadt laufen oder zurück nach Mexiko, und zwischendurch schaue ich bei der Bank vorbei, um mein Geld abzuheben. Araceli gefiel die Vorstellung, dass sie der Polizei durch ihre bloße Abwesenheit eine Nase drehen würde, sie würde keine Fragen beantworten und keine Erklärungen liefern, auch wenn sie eigentlich keinen Grund zum Weglaufen oder Verstecken hatte, abgesehen von ihrer lästigen mexikanischen Staatsangehörigkeit. Man würde sie verhaften und sich später um die Wahrheit kümmern. Aber ich will keine Gefangene sein, nicht mal für ein paar Stunden. Araceli hatte im Lauf der Jahre regelmäßig Geschichten aus den ganzen USA verdaut, die ihr vom spanischsprachigen Fernsehen serviert worden waren und unmissverständlich gezeigt hatten, dass alle, die unerlaubt auf dieser Seite der Grenze lebten, mit einer Reihe demütigender Bestrafungen nach Hause geschickt wurden. Fleischereiarbeiter, Näherinnen, Mütter mit Babys in Windeln: Araceli hatte sie im Fernsehen gesehen, in Lieferwagen zusammengetrieben, in Busse mit Stahlgittern vor den Fenstern, in Lagern hinter Zäunen interniert, in Flugzeuge gesteckt, die auf den tropischen Rollbahnen von San Salvador und Tegucigalpa landeten, weit weg von den Städten, die für diese Menschen ein Zuhause geworden waren – Iowa, Chicago, Massachusetts. Pobrecitos. Wenn so eine Saga im Fernsehen lief, hatte Araceli sie als das Pech anderer Menschen abtun können. Sie war zu beschäftigt gewesen, um sich Sorgen zu machen, außerdem hatte sie ihren Frieden mit den riskanten Entscheidungen ihres Lebens gemacht. Doch da ihr Name und ihr Gesicht jetzt in den tragischen Strom der Gesuchten, der Verhafteten, der Deportierten eingespeist worden waren, musste sie sich widersetzen. Meine Worte und meine wahre Geschichte werden mir keine Freiheit erkaufen, jedenfalls nicht gleich. Araceli würde ihre Geschichte auf Spanisch erzählen, la señora Maureen dagegen die ihre auf Englisch: Es lag auf der Hand, dass die beiden Sprachen nicht von gleichem Gewicht waren.
»Me voy« , verkündete Araceli fröhlich. »Viel Glück, Jungs. Ich bin froh, dass ihr nicht in der Pflege gelandet seid. Lucía und ihr Vater werden auf euch aufpassen, bis die Polizei kommt.«
Nachdem sie ihren Rucksack aus Lucías Schlafzimmer geholt hatte, durchquerte Araceli ein letztes Mal das Wohnzimmer, tätschelte Keenan den Kopf und legte Brandon die Hand auf die Schulter.
»Ich lasse sie bei euch«, sagte sie zu Lucía und zu Mr Luján, der plötzlich eingetreten war. »Cuídenlos, porfis.«
Einen Augenblick betrachtete Araceli noch ihre Umgebung, den erwachsenen Mann und seine junge Tochter, musterte sie kurz, wie um sich selbst zu beruhigen, so wie es eine eilige Mutter tat, die ihre Kinder in der Tagesstätte abgab. Dann fiel ihr ein, dass die Polizei unterwegs war, und sie ging zur Haustür. »Adios, niños« , sagte sie und fügte ein unnötiges »Bleibt hier« hinzu. Dann trat sie in den Glutofen des Julitages hinaus. Sie ging die Verandastufen hinunter, über den Rasen und die Straße, auf der sich gestern der Lynchmob versammelt hatte, wieder in Richtung der Bushaltestelle, sie würde nun eine Reise beginnen, die sie an einen neuen, unbekannten Ort bringen sollte.
Von den in ihrem Wohnzimmer versammelten Deputys, Detectives, Sozialarbeitern und verschiedenen Ämtervertretern des Orange County fand Maureen Torres-Thompson die Vertreterin des Jugendamtes am bedrohlichsten. Olivia Garza war Amerikanerin mexikanischer Herkunft, wog bei knapp eins achtzig Körpergröße an die hundert Kilo, und ihre angestrengten Atemzüge und ihr entnervtes Aufseufzen füllten das Schweigen im Zimmer. Die massige Fremde hatte ziemlich lange die Bilder auf dem Regal betrachtet, und Maureen hatte das Gefühl, dass sie nach Hinweisen in den Gesichtern suchte, in der Körpersprache der Hochzeitsbilder, im Äußeren ihrer Kinder auf den Schulfotos.
Als Einzige unter den versammelten Mitgliedern des Krisenstabes sah Olivia Garza keinen Grund, ihre Skepsis zu verbergen. Sie hatte ein einzigartiges Talent dafür, verwickelte familiäre Störungen zu
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