In den Häusern der Barbaren
den vermissten Kindern. Sie sind elf und acht Jahre alt und wurden womöglich von ihrem mexikanischen Kindermädchen verschleppt. Anscheinend haben die ermittelnden Beamten Grund zu der Annahme, dass sie mit den Jungen nach Mexiko will.«
»So ist es, Joe. Brandon und Keenan Thompson aus Orange County. Das sind sie. Und das ist ihr Kindermädchen, Araceli Ramirez. Sie ist offenbar Mexikanerin, angeblich, und darum wird jetzt jedes Auto überprüft, das die Grenze überquert. Das verstehen wir. Sie haben die Grenze doch nicht vollständig zugemacht, oder, Captain?«
»Nein, Patrick. Wie Sie sehen, wenn wir uns jetzt mal heranzoomen … der Verkehr läuft noch durch den Kontrollposten, aber wirklich im Schneckentempo. Und das geht so langsam, weil in einem solchen Fall, wo es also schon einen AMBER -Alarm gegeben hat und eine Verdächtige, die möglicherweise mexikanische Staatsangehörige ist, da will man natürlich kein Risiko eingehen.«
Die Kamera zoomte wieder zurück und zeigte kurz die amerikanische und mexikanische Flagge am jeweiligen Ende der zwanzig Fahrspuren sowie die Kontrollhäuschen, dann das lange, gewundene Puzzle aus Autoteilen auf der US -Fahrbahn in südlicher Richtung. Zwischen dem Randstreifen und der Mittelleitplanke brodelten Sattelschlepper, Pick-ups und Taxis in der Hitze, sogar ein Auto mit Bootsanhänger. Dann schwenkte die Kamera zurück und zeigte, wie die Fahrzeugschlangen sich hügelauf nach Norden wanden, auf die entfernte Skyline von San Diego zu. Schließlich wurde zu einer früher aufgenommenen Sequenz geschnitten, auf der ein amerikanischer Zollbeamter einen Ausdruck des Bildes von Brandon und Keenan in der Hand hielt, während er in einen Lieferwagen schaute.
Araceli riss Griselda die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus, als könnte sie damit den Wahnsinn noch stoppen, bevor sich die Lügen und Bilder weiter ausbreiteten. In den Nachrichten bin ich eine Verbrecherin. Die Polizei sucht mich, die Grenzen werden kontrolliert. Sie suchten die Jungen, um sie zu retten, und sie suchten Araceli, um sie zu verhaften. Das hat Maureen veranlasst. Weil sie nach Hause gekommen ist und die Jungen nicht vorgefunden hat, weil sie mich dafür bestrafen will, dass ich mich wie die Mutter ihrer Kinder aufgeführt habe, dabei habe ich nie darum gebeten. Ihr Instinkt hatte also recht behalten: Sie hätte sich von den Kindern ihrer jefes fernhalten sollen. Als sie glaubte, sie könne ihre Erziehungsberechtigte sein, hatte sie eine Grenze überschritten. Und jetzt würde man sie verhaften, weil sie es gewagt hatte, die elternlosen Kinder vor der Pflege zu retten, vor dem Heim.
Sie spürte, wie Lucía und Griselda sie anstarrten. Konnte das sein? , fragten die beiden sich. Haben wir eine Kindesentführerin in unser Haus aufgenommen?
»Están locos« , sagte Araceli geringschätzig, womit sie zugleich die Nachrichtensprecher meinte und Maureen und Scott und die beiden zweifelnden jungen Frauen hier im Wohnzimmer. Sie drehte sich zu den Jungen um und wiederholte es auf Englisch, weil Keenan und Brandon die Wahrheit kannten und vielleicht etwas zu ihrer Verteidigung sagen würden. »Die sind verrückt. Sie sagen, ich habe euch weggenommen.«
»Ich will nach Hause«, sagte Keenan. Die Fernsehbilder hatten ihn weiter verstört, denn wenn einem im Fernsehen erzählt wurde, dass man vermisst wird, dann wurde man vielleicht bald wirklich vermisst. Er wollte nicht »verschwunden« sein, denn das stellte er sich ungefähr so vor, dass man in einem weißen Zimmer in einer anderen Dimension saß und darauf wartete, dass man in die bekannte und geordnete Welt zurückkehren durfte. »Ich will nicht vermisst sein. Ich will nach Hause.«
Brandon machte sich auch Sorgen, weil er vermisst wurde, doch als er Keenans flehendes Jammern hörte, erwachte der ältere Bruder in ihm. »Wir sollten zu Hause anrufen und ihnen sagen, wo wir sind«, sagte er mit lauter Stimme; er war zufrieden, weil ihm eine einfache und rasche Lösung ihres Problems eingefallen war. »Dann können sie uns abholen!«
»Gute Idee«, sagte Lucía.
»Dann sollte ich besser gehen«, warf Griselda rasch ein, »ehe die Polizei auftaucht.« Sie warf Lucía einen vielsagenden Blick zu und verzog gequält das Gesicht, als die sie nicht gleich verstand. »Weil die Polizei uns allen Fragen stellen wird.«
Lucías Blick schweifte verwirrt umher, landete dann wieder bei ihrer Freundin, bis sie endlich begriff. »Ach ja, richtig.
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