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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Natürlich. Du solltest gehen.«
    »Was?« Der geheimnisvolle Dialog zwischen den Freundinnen irritierte Araceli. »Sucht die Polizei dich auch?«
    Griselda Pulido schüttelte den Kopf und sagte sehr direkt auf Englisch: »Ich habe keine Papiere.«
    Das schien unmöglich. Eine junge Frau, die auf Englisch über Musik und über ihr Beziehungsleben redete, die offensichtlich an den amerikanischen Schulen das freie Denken und Leben gelernt hatte, was normalerweise nur den klügsten Töchtern des Landes zustand, verkündete nun ernsthaft, sie sei eine indocumentada . Das passte irgendwie nicht zu den dünnen Silberreifen an ihren Handgelenken, zu ihrer schlanken und selbstbewussten Haltung, zum sanften, gleichmäßigen Tonfall der Gebildeten. Und es passte auch nicht zu ihrem koboldhaften Partyaufzug: einem schwingenden spinatgrünen Kleid mit dunkelgrünen Leggings und spitzen Elfenschuhen, das an ein Bühnenkostüm aus dem Mittsommernachtstraum erinnerte.
    »Pero es gringa« , sagte Araceli.
    »Nein, bin ich nicht. Ich bin mexicana .«
    »¿De veras?« , hakte Araceli nach. »Pero ni hablas bien el español.«
    »Mein Spanisch könnte besser sein, das stimmt«, sagte Griselda ruhig, und auf einmal strahlte sie zugleich jugendliches Selbstbewusstsein und eine unvermeidliche Unterwürfigkeit aus. »Ich habe ja eigentlich nie in Mexiko gelebt, darum ist das eben so.« Nachdem sie den Widerspruch ihrer Lage kurz bedacht hatte, senkte Griselda die Stimme. »Ich bin mit zwei Jahren hergekommen. Und seitdem war ich nie wieder dort. Die Brown University hat mich trotzdem angenommen, aber sie können mir natürlich keine finanzielle Unterstützung gewähren.«
    Araceli war schockiert. Griselda war indocumentada geworden, als sie noch in den Windeln lag; ein Land musste schon sehr grausam und kalt sein, um einem Baby ein solches Etikett anzuhängen und es im Stich zu lassen, während es zu einer englischsprachigen jungen Frau heranwuchs.
    Lucía legte Griselda die Hand auf die Schulter. »Dann solltest du jetzt gehen. Wenn der Junge anruft, geh sofort.« Sie wandte sich an Araceli und sprach mit einer Strenge, die sie später bereuen sollte: »Und du solltest vielleicht auch gehen.«
    »¿Qué?«
    »¿Tienes documentos?« , fragte Griselda und las die Antwort sofort aus Araceli plötzlich unbehaglichem Schweigen. Diese Wortlosigkeit kannte Griselda auch; wenn man ein Geheimnis so lange mit sich herumtrug, dann vergaß man es völlig, bis jemand oder etwas einen daran erinnerte, bis man den Druck der Worte auf der Haut spürte und merkte, dass die Worte eigentlich immer da gewesen waren.
    »Hi, Dad«, sagte Brandon ins Telefon. »Wir sind hier.« Er schwieg, um der Stimme seines Vaters zu lauschen. »Ja, wir haben uns gerade im Fernsehen gesehen. Aber ich bin nicht verschwunden. Ich bin doch hier.« Jetzt schallte erregtes Rufen aus dem Telefon, winzige Erwachsene feierten im Hörer, klatschten und kreischten vor Freude. »Gestern Abend haben wir Tacos gegessen«, fuhr Brandon fort. »Sie haben ein Schwein gebraten. Mit Feuer unter der Erde. Aber ich glaube, jetzt brennt es nicht mehr … Was? Die Adresse?«
    »2626 Rugby Street«, sagte Lucía und sah Griselda an. »In Huntington Park.«
    Brandon gab die Adresse an seinen Vater weiter. »Ja, Araceli ist bei uns. Sie hat sich um uns gekümmert. Wir sind Zug gefahren und auch mit Bussen. Wir haben einen Fluss gesehen, aber der hatte kein Wasser.« Plötzlich kniff er verärgert die Augen zusammen. »Und wo seid ihr eigentlich gewesen? Ist Mommy da?« Er hörte sich die Antwort an und wandte sich an Keenan. »Er sagt, Mommy kann gerade nicht reden, aber es geht ihr gut.«
    Keenan nahm den Hörer und verkündete seinem Vater ausdruckslos, ihm gehe es auch gut. »Ich hab dich auch lieb«, sagte er und legte auf, denn für ihn gab ein Ich-hab-dich-lieb am Telefon das Signal zur sofortigen Verabschiedung.
    Das Klappern des Hörers auf der Gabel war für Griselda das Zeichen, Lucía zum Abschied auf die Wange zu küssen. Ohne weiteres Drama ging sie zur Haustür, drehte sich noch einmal um und winkte Araceli und den Jungen zu, wobei ihre Lippen stumm auf Spanisch Glück wünschten. Suerte. Die Gittertür schlug hinter Griselda zu, und Araceli sah sie durchs Wohnzimmerfenster über den Rasen und dann auf den Bürgersteig gehen. Sie glitt in ihren Slippern und dem weiten grünen Kleid an den Autos und Vorgärten vorüber, eine grüne Fee ohne Papiere, die völlig sorglos schlenderte, die

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