Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
schloss ihn dann und dachte: Mom hat recht, ich brauche bald eine Klammer. Maureen hatte das Bild vor acht Stunden auf ihrer Digitalkamera gefunden, als der erste von zahlreichen Ermittlern in ihrem Wohnzimmer stand. Es war der vergrößerte Ausschnitt eines Fotos von Keenans Geburtstagsparty, aufgenommen am späten Nachmittag, als die Jungen in der letzten Stunde der Veranstaltung erschöpft vor dem Kuchen standen; auf allen früheren Bildern des Tages hatten die Jungen Pappmascheehelme getragen.
    »Die Polizei bittet Sie um Ihre Mithilfe bei der Suche nach diesen beiden kleinen Jungen, Brandon und Keenan Torres-Thompson aus den Laguna Rancho Estates«, sagte eine ernste Männerstimme. »Sie werden seit zwei Tagen vermisst, Nancy, und die Eltern suchen natürlich verzweifelt nach ihnen.«
    »Oh mein Gott, sind die süß!« Das Bild wechselte ins Nachrichtenstudio, wo Nancy, die weibliche Comoderatorin, die Hand vor den Mund schlug und die Brauen zu einer theatralisch rührseligen Grimasse verzog. Das Gesicht war dem Anlass nicht angemessen, weshalb rasch wieder zu einem anderen Bild geschaltet wurde.
    »Sie befinden sich vermutlich in der Obhut ihrer Haushälterin, einer Immigrantin aus Mexiko. Ihr Name ist Araceli Ramirez.« Maureen hatte über eine halbe Stunde hektisch in den Kisten mit ihren Familienfotos gesucht und endlich eine Aufnahme von Araceli gefunden. Es war ein flüchtiges Bild, ebenfalls im Dämmerlicht des späten Nachmittags aufgenommen, bei einer anderen Geburtstagsparty vor einem Jahr – Brandons zehnter. Araceli tauchte verschwommen im Hintergrund einer Großaufnahme auf, deren Vordergrund bis auf das Ohr der Hauptperson abgeschnitten war – Maureen, die mit der kleinen Samantha im Tragetuch vor der Brust posierte. Araceli war außer Reichweite des Blitzlichts gewesen und in verwischtem Profil aufgenommen. Sie überquerte in ihrer filipina rasch den Rasen, ging mit einem Stapel schmutziger Teller hinter ihrer Chefin entlang. Kein besonders schmeichelhaftes Bild; so aus dem Zusammenhang gerissen, suggerierte die schlechte Bildqualität etwas Verstohlenes, als wäre sie damals schon auf der Flucht gewesen. »Die Eltern der Jungen haben die beiden offenbar in der Obhut der Haushälterin zurückgelassen, und die Haushälterin ist nun verschwunden – mit den Jungen.«
    »Sie ist mit ihnen verschwunden?«
    »So lässt es die Polizei verlauten.«
    »Mein Gott, dann wollen wir beten, dass sie in Sicherheit sind.«
    »Ihre Eltern wollen sie natürlich so schnell wie möglich wiedersehen.«
    Der Bericht war zu Ende, und Araceli und die Jungen blieben mit dem unbehaglichen Gefühl zurück, dass sie in Körpern und Gesichtern steckten, die soeben durch Funkwellen, Kabel, Satellitenschüsseln in sämtliche Wohnzimmer der Metropole übertragen worden waren. Araceli war sich im Unklaren über die Verwendung des Ausdrucks »mit den Jungen verschwunden«; sie fragte sich, ob »verschwinden« die gleichen heimlichen und ruchlosen Beiklänge hatte wie desaparecer ; dann sprach Lucía das englische Wort laut aus, und aus ihrem Tonfall sprachen Verblüffung und unterdrückte Abscheu. Araceli begriff, es gab überhaupt keinen Unterschied.
    »Sie sagen, du seist mit ihnen verschwunden. Dass du sie weggebracht hast. Hattest du denn keine Erlaubnis?«
    »¿Permiso?« , schnappte Araceli. »Me dejaron sola con dos niños. Me abandonaron.«
    »Aber jetzt suchen sie nach ihnen.«
    »Ja, das weiß ich.« Araceli wechselte zu Englisch, weil Lucía sie anscheinend nicht richtig verstand. »Aber sie sind vor vier Tagen weggefahren und haben kein Wort zu mir gesagt. Ich war ganz allein.«
    Griselda nahm wieder die Fernbedienung und schaltete durch die Kanäle, bis sie bei einer Helikopteraufnahme hängen blieb: stockender Verkehr auf einer Fahrbahn eines Freeways. Die Worte am unteren Rand des Bildschirms hatten sie anhalten lassen – VERMISSTE KINDER –, und Griselda erhöhte die Lautstärke, bis sie den Dialog zwischen einem Studiosprecher und einem anderen Mann verstehen konnten, der anscheinend aus dem Inneren eines gigantischen Mixers sprach.
    »Wir haben Captain Joe McDonnell am Mikrofon, im Helikopter Sky Five über San Ysidro an der US -mexikanischen Grenze … und Junge, Junge, sehen Sie sich diese Schlange an.«
    »Ganz recht, Patrick. Wir haben hier drei Kilometer Stau, und soweit ich das sehen kann … reicht der Verkehr bis weit hinter die letzte Ausfahrt nach San Ysidro. Und das liegt nur an diesem Fall mit

Weitere Kostenlose Bücher