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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Schmierenkomödie, in die man ihn da hineingezogen hatte. Im letzten Monat hatte er es mit einem taiwanesischen Kinderhändlerring und einer Crystal Meth rauchenden Oma zu tun bekommen, zu deren Erziehungsmaßnahmen gehörte, dass sie ihre brennenden Zigaretten auf der Haut der Kinder ausdrückte. Nachdem er in den vergangenen Wochen dreimal in die Notaufnahme gefahren war, wo die betroffenen Kinder untersucht und fotografiert worden waren – eine abartige, grausame Aufgabe, die das Etikett Spurensicherung trug –, war er über die alberne Harmlosigkeit des heutigen Falles eher verärgert als erleichtert. Hier gab es nichts zu ermitteln, und anderswo wurde er dringend gebraucht. Auf Schwachsinn folgt Trübsinn , so ist es doch immer . Sekunden später stand er auf und verließ den Verhörraum, gefolgt vom Staatsanwalt. Es entspann sich ein Streit, der immer noch andauerte, als sie zwanzig Minuten später im Paseo Linda Bonita ankamen.
    Officer Castillo eskortierte Araceli zu ihrer Zelle zurück, wo ihr drei Stunden Zeit blieben, die Kunst an den Wänden zu studieren – fünf Abbildungen eines Einhorns mit krummen Beinen, drei von Pfeilen durchbohrte Kruzifixe sowie eine sehr kunstfertig gezeichnete Rosenknospe, alles in einem zarten Bleistiftstrich, der sich schemenhaft aus dem Nebel der gelb glänzenden, abwaschbaren Wandfarbe abhob. Sie spielte mit dem Gedanken, einen der Wärter um ein Schreibutensil zu bitten, denn sobald man sie auf freien Fuß setzen würde, könnte sie wieder, und so sollte es bleiben, frei über ihre Zeit verfügen. Warum nicht die Gelegenheit ergreifen und sofort etwas Sinnvolles anfangen? Vielleicht könnte sie einen Picasso-Stier oder ein El-Greco-Pferd zur Sammlung beitragen.
    »Sir, könnte ich bitte einen Stift haben, wäre das möglich?«, fragte sie Officer Castillo, sobald er das nächste Mal zu ihrer Zelle kam. Zu ihrer großen Überraschung entriegelte er die Tür und hielt sie weit offen.
    Die Webseite des Nachrichtenportals war mit der Animation einer blinkenden Polizeisirene verziert; darunter wanderten die eilig verfassten Schlagzeilen über den Bildschirm. Die Nachricht von Brandons und Keenans vermeintlicher Entführung und glücklichen Rettung hatte im Laufe der ersten drei Stunden für 3,4 Millionen Klicks gesorgt; die Benutzerzahl verdoppelte sich, als die Betreiber zwei Stunden später auf Filmmaterial verlinkten, das sie von einem ABC -Mitarbeiter erhalten hatten: fünfundvierzig Sekunden Araceli, wie sie rannte und schließlich von einem Polizisten zu Fall gebracht wurde. Die Bilder waren von der Filmcrew in Huntington Park aufgenommen und vom Regisseur für tausend Dollar weiterverkauft worden; später erklärte er seinen Freunden, das Geld habe für zwei Tage Catering am Drehort gereicht. Bald liefen die Bilder in allen Nachrichtensendungen des Landes, und bis zum Nachmittag hatten alle Chefs vom Dienst und alle leitenden Redakteure eine Armee von klugscheißerischen Reportern entsandt, die das Polizeirevier von South County und den Paseo Linda Bonita belagerten.
    Die Wachleute am Zufahrtstor der Laguna Rancho Estates ließen jeden passieren, der den rechteckigen, neongrünen, laminierten, vom Sheriff ausgestellten Presseausweis vorweisen konnte. Vor dem Haus im Paseo Linda Bonita bedrängten die Reporter die anwesenden niedrigrangigen Polizeisprecher, um an Details der »Kinderodyssee« zu kommen. Sie pflanzten ihre Stative und Reflektoren auf dem Rasen vor dem Haus auf. In Huntington Park belagerte ein zweiter Medientrupp das Haus der Familie Luján. Der Stadtverordnete hatte alle Fenster und Türen schließen lassen, sodass die Reporter mit den Nachbarn vorliebnehmen mussten, denen sie unhaltbare Spekulationen über eine mögliche Kindesentführung und eine Flucht über die Grenze zu entlocken versuchten.
    »Nach polizeilichen Angaben wird der Stadtverordnete Luján in diesem Fall nicht als Verdächtiger betrachtet«, verkündete ein Reporter mit sattem Bariton im Nachrichtensender KFWB ; er war ein Veteran der Unruhen, der Promiprozesse, der großen und kleinen Flugzeugabstürze, ein echter Macho von Investigativjournalist, der mit Polizeibeamten im mittleren und höheren Dienst per Du war, und zwar in den meisten der unzähligen Polizeibezirke von Los Angeles und Orange County. »Offenbar ist er nur ein barmherziger Samariter, ein Unbeteiligter, der in das Drama um die beiden Kinder hineingezogen wurde. Offiziellen Angaben zufolge wird immer noch nach dem

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