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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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aufgewacht, dass draußen einer geschrien hat.«
    »Ich habe niemanden schreien hören«, sagte Keenan.
    »Du hast noch geschlafen, aber ich habe es gehört. Es war direkt nach dem Erdbeben.«
    »Es gab ein Erdbeben?«, fragte Keenan.
    »Ja. Also dieser Mann, der hatte Schmerzen oder so. Er hat geschrien, als hätte er schreckliche Bauchkrämpfe. Und dann sind wir alle aufgestanden und woanders hingefahren, das hieß Park, obwohl da nirgends ein Park war. Ich glaube, wir sind hingefahren, weil wir dachten, dass Grandpa da wohnt. Hat er aber gar nicht. In diesem Park gab es ein unterirdisches Feuer, das ein Schwein in ein Skelett verwandeln konnte. Das Feuer war total heiß, obwohl es unter der Erde war, wir haben später die Steine aus der Erde angefasst, und die waren noch ganz warm. Aber vorher ist alles rundrum explodiert. Auf der Straße ist eine Kanone abgefeuert worden. Und Keenan hatte ein Feuer in der Hand, ich habe ihm gesagt, er soll das fallen lassen, aber er hat nicht auf mich gehört.«
    »Das stimmt gar nicht!«
    »Doch, das stimmt. Lüg nicht. Ich habe es gesehen. Du hast ein Feuer gehabt, es ist aus deiner Hand gekommen, und dann ist auf der Straße die Kanone losgegangen. Ich wollte weinen. Danach ist ein Lynchmob vor die Veranda gezogen und hat uns angeschrien. Die hatten was gegen den Mann, dem das Haus gehörte, und wir haben ›Ray Forma!‹ geschrien, weil der gegen sie ist. Ray Forma ist so eine Art Held, der die Leute vor Lynchmobs rettet. Die Leute, die uns angeschrien haben, hatten keine Fackeln dabei, aber ich wusste trotzdem, dass es ein Lynchmob war, und sie waren ziemlich sauer auf den Mann, der da wohnt, weil der ein Präsident ist. Aber dann kam die Polizei und hat den Lynchmob verjagt, und wir sind schlafen gegangen, und als wir am nächsten Morgen aufgewacht sind, waren wir im Fernsehen, also bin ich zum Telefon gegangen und habe Dad angerufen.«
    Das versammelte Erwachsenenpublikum starrte Brandon fassungslos an, mit offenem Mund und hochgezogenen Brauen; keiner konnte mit den unsinnigen Details der Geschichte etwas anfangen, genauso wenig wie mit Brandons direkter, ernster Art und Keenans regelmäßigem, zustimmendem Nicken. Erwachsene und Kinder waren vorübergehend in einen geheimnisvollen Zustand der Unschuld versetzt, in eine mentale Leere, in der nichts unmöglich war; und für einen ganz kurzen Moment erlaubten die Erwachsenen sich zu glauben, diese beiden eloquenten Jungen könnten tatsächlich aus einem magischen Land heimgekehrt sein. Nicht einmal Olivia Garza, die schon jede Geschichte gehört zu haben glaubte, auf die ein Kind nur kommen konnte, wusste genau, was sie von Brandons Monolog halten sollte. Sie warf einen ratlosen Blick auf ihr Diktiergerät und schaltete es dann ab.
    Detective Blake und Staatsanwalt Goller standen gleichzeitig auf, während ein zweiter Detective namens Harkness sich vorbeugte und Keenans und Brendans Kopf tätschelte. »Danke, Jungs«, sagte er. Detective Blake rief die Eltern aus ihrem vorübergehenden Küchenexil zurück und ließ sie mit den Kindern allein. Das Komitee zog sich für ein Tête-à-Tête hinters Haus zurück. Sie standen im Kreis und schauten in die Runde, als wollten sie fragen: Und nun?
    »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, machte Detective Blake schließlich den Anfang. »Der Junge hat eine blühende Phantasie.«
    »Meiner Meinung nach ein typisches Anzeichen dafür, dass ein Kind zu oft sich selbst überlassen worden ist«, sagte Olivia Garza. »Egal, ob vor dem Computer, mit seinen Büchern oder Videospielen. Das kann schlimme Folgen haben. Das Kind zieht sich in seine eigene Welt zurück.«
    »Gott weiß, was ihnen wirklich zugestoßen ist«, warf Staatsanwalt Goller ein. »Ich bin kein Psychologe, aber vielleicht handelt es sich hier um eine emotionale Phantasiereaktion auf ein schweres Trauma.«
    Alle Blicke richteten sich auf die Psychologin vom Jugendamt, eine neunundzwanzigjährige, frischgebackene Absolventin der UCLA mit Namen Jennifer Gelfand-Peña. Dr. Gelfand-Peña begleitete das Kriseninterventionsteam zum ersten Mal. Sie trug – völlig übertrieben – ihr schickstes Businesskostüm und wunderte sich gerade, warum man zu diesem offenkundig harmlosen Fall einen Vertreter der Staatsanwaltschaft und zwei Detectives hinzugezogen hatte.
    »Wie ich das Ganze sehe?«, fragte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit, was die stetig wachsende Verärgerung über ihre Person nur noch steigerte. »Ich finde den

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