In den Häusern der Barbaren
der Sherman-Oaks-Galerie wendeten den Blick vom Monitor ab oder stellten das Autoradio leiser, um zum Telefon oder Handy zu greifen und zu Hause anzurufen, einfach nur so, nur um dem Akzent der Haushaltshilfe zu lauschen, um nach Hinweisen auf den drohenden Verrat zu forschen, nach einem verbalen Ausrutscher der Intrigantin. »Alles in Ordnung? ¿Todo bien? Sí? Yes? Okay …« Wenn sie nach Hause kamen, zählten sie die Kettchen und Broschen im Schmuckkoffer durch, manche Mütter suchten die Arme und Hälse ihrer Kinder nach Hämatomen ab, einige fragten zum ersten Mal seit Wochen ihre Kleinsten, ob Lupe und María und Soledad wirklich »nett« seien und nicht womöglich »böse«. Die häufigste Antwort auf diese Fragen lautete: »Was?« oder: » ¿Qué , Mommy?«
17 Brandon saß im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerteppich und erzählte von der Reise, die er und sein Bruder ins ferne Land Los Angeles unternommen hatten. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben fand er sich vor einem Publikum von Fremden wieder, die ihm mit demselben gespannten Ernst zuhörten, den Erwachsene in der Regel nur für Gespräche unter ihresgleichen aufbrachten. Sie saßen auf der Kante von Sofa und Sessel beziehungsweise auf einem Esszimmerstuhl, vier erwachsene Männer und zwei Frauen in unterschiedlich formeller Kleidung, mit verschiedenen Abzeichen und Ausweismarken aus Plastik und Metall und an der Kleidung befestigten Funkgeräten, lauter Zubehör, das sie in Brandons Augen im Reich des Offiziellen einordnete. Nichts davon schüchterte ihn ein. Im Gegenteil, die Anwesenheit der Leute, die ihm als »Polizisten« und »Sozialarbeiter« vorgestellt worden waren, bestätigten seine Vermutung, ein womöglich lebensgefährliches Abenteuer überstanden zu haben. Er hatte sich weit von der Sicherheit und Geborgenheit seines Zuhauses entfernt, aber er war zurückgekehrt, um seine Geschichte zu erzählen.
»Und dann sind wir aus dem Zug mit den zwei Etagen ausgestiegen und woanders hingegangen. In Los Angeles«, sagte er, während sein Bruder neben ihm zustimmend nickte. »An dem anderen Ort war fast alles aus Backsteinen.«
»Und aus Holz«, fügte Keenan hinzu.
»Ja, und aus Holz, kann sein. Und wir sind an einem Fluss vorbeigekommen«, fuhr Brandon fort, »oder war es ein Canyon?«
»Ja, ein riesiger Canyon«, sagte Keenan.
»Mit Brücken drüber. Und da haben Leute gewohnt. Die sind vor den Feuerschluckern geflohen.«
»Vor den Feuerschluckern?«, fragte Olivia Garza.
»Ja, das sind die Männer, die am Ende von Die Rache der Flussläufer die Stadt Vardur zerstören.«
»So heißt eines von seinen Büchern«, sagte Keenan. Er hatte die Verwirrung der Erwachsenen bemerkt und fühlte sich zu einer Erklärung genötigt. »Als Mom und Dad weggefahren sind und Araceli gesagt hat, sie würde auf uns aufpassen, hat sie gar nicht auf uns aufgepasst … Ich meine, sie hat uns nicht so wie Mom gesagt, was wir tun sollen. Deswegen hat Brandon mehr gelesen als sonst. Und wenn er liest …«
»Ja, aber diese Leute waren echt«, unterbrach ihn Brandon. »Sie hatten Narben im Gesicht, weil sie mit den Feuerschluckern gekämpft haben. Dann sind wir zu einem großen Bahnhof gegangen. Da sind wir in einen Bus gestiegen, und wir haben Grandpas Haus gesucht, weil Araceli gesagt hat, wir suchen ihn jetzt. Aber dann haben wir stattdessen diese andere Straße gefunden, wo alle Häuser wie Gefängnisse aussehen oder so ähnlich. Dann haben wir noch Häuser mit halben Türen und mit Vierteltüren gesehen und Dreivierteltüren und noch andere Sachen, von denen ich dachte, es gibt sie nur in Büchern. Aber die waren echt. Und dann haben wir eine Hütte gefunden, die sah so ähnlich aus wie eine Oase in der Wüste, wo sich Leute von überall treffen, um Sachen zu verkaufen. Wir haben einen Jungen kennengelernt, der war Sklave. Ich habe ein Buch über Sklaverei, und der Junge sah kein bisschen so aus wie die Sklaven in dem Buch, aber er war trotzdem einer. Wir haben bei ihm in seiner Hütte gewohnt. Und er hat uns von den Kriegern erzählt, die früher auf der anderen Straßenseite gewohnt haben, und von den Kämpfen, die immer dreizehn Sekunden gedauert haben. Die Frau, die da gewohnt hat, war wirklich gemein zu dem Jungen, sie hat ihn zum Arbeiten gezwungen.«
»Das stimmt«, sagte Keenan, »er war wirklich ein Sklave.«
»Genau. Er war so in meinem Alter, aber er war tatsächlich Sklave. Eine Nacht haben wir dort geschlafen, und am Morgen sind wir davon
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