In den Häusern der Barbaren
Tatmotiv der jungen Dame mit dem Namen Araceli No-e-mi Ramirez geforscht. Um es zu wiederholen: Die Kinder, mit denen sie sich abgesetzt hatte, sind in Sicherheit … Sie hörten Pete … live aus Huntington Park.«
Der NBC -Reporter hingegen sprach von einem »verstörenden, rätselhaften Vorgang«. Er, die Verkörperung ergrauter Jugendlichkeit, war den südkalifornischen TV -Zuschauern bestens bekannt für seine eindringlichen und doch sachlichen Liveberichte, die er sonst vom Rand eines Waldbrandes sendete, vor dem Hintergrund einer Schlammlawine oder vom Schauplatz der Bandenkriminalität. »Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, in welchem Zustand die Jungen sich befinden und was sie durchgemacht haben. Wir wissen nicht, ob und wofür dieses mexikanische Kindermädchen angeklagt werden wird. Wir wissen nicht einmal genau, was sie zu der Tat getrieben hat«, fasste der Reporter sein Unwissen zusammen, während sein Sender ihn ins nationale Kabelnetz einspeiste. Stundenlang wurde immer wieder derselbe verschwommene Schnappschuss von Araceli gesendet, daneben Filmaufnahmen von der Fahndung, von Warteschlangen an der Grenze, von der Überwältigung Aracelis und dem leuchtend weißen Haus, bei dessen Beschreibung immer wieder die Begriffe »exklusiv«, »Hanglage« und »Privatstraße« fielen. Als das Interesse wuchs und an der Ostküste schon der Abend dämmerte, fielen die selbst ernannten Tragödienexperten in den Chor ein. Es handelte sich um ehemalige Staatsanwälte und Verteidiger, die sich darauf spezialisiert hatten, nebulöse Informationen in kleine Häppchen zu zerlegen und so lange durchzukauen, bis daraus handfeste Wahrheiten und Erkenntnisse wurden, die oft auf einem »Bauchgefühl« basierten und »dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen«. Manche ließen sich, warum auch nicht, über alles aus, was sie über mexikanische Frauen und gut situierte Familien zu wissen meinten, Familien, die es sich leisten konnten, ihre Kinder von Ausländerinnen betreuen zu lassen. Die Expertenkommentare vermischten sich mit den Meinungen gesichtsloser Bürger, die kostenlose, landesweit geöffnete Hotlines anriefen und Araceli zu einer furchterregenden Gestalt hochstilisierten. Maureen und Scott wurden mit Mitleid überschüttet, das von einem Hauch Sozialneid und gerechtem Volkszorn eingetrübt war. »Es gibt gute Gründe für eine Frau, daheim zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern, anstatt sie einer Mexikanerin zu überlassen, auch wenn die nur zehn Dollar am Tag kostet«, meldete sich eine Anruferin aus Gaithersburg, Maryland, zu Wort. Die Moderatorin im Fernsehstudio blähte die Nüstern und nickte ernst.
In allen amerikanischen Haushalten, die eine Mexikanerin, Guatemaltekin oder Peruanerin beschäftigten, verdauten Mütter und Väter die Neuigkeiten, ließen den Blick über ihre abgestaubten Wohnzimmermöbel und straff gespannten Bettlaken gleiten und unterzogen die Haushaltshilfe einer genaueren Betrachtung. Sie sprachen Fragen aus, die sie sonst für sich behielten, da sie ohnehin niemand genau beantworten konnte. Woher kommt diese Frau eigentlich, was weiß ich über sie? Viele Arbeitgeber waren nur flüchtig mit den Lebensdaten ihrer Angestellten vertraut. Die Feinfühligeren unter ihnen betrachteten höflich die Fotos, die postalisch aus dem fernen Süden eintrudelten, kleine, unscharfe Bilder mit dem anachronistischen KODAK -Aufdruck auf der Rückseite, Fotos von runzligen Eltern, die zwischen Feigenkakteen und verblichenen Maisstängeln posierten, von Kindern in nordamerikanischen Second-Hand-Klamotten, von exotisch anmutenden Feierlichkeiten mit brennendem Räucherwerk und von Festumzügen mit religiösen Ikonen. Die Konfrontation mit der fernen Armut verursachte Gefühle von Bewunderung, Schuld und Ekel in unterschiedlich starker Ausprägung, außerdem eine gewisse Ratlosigkeit. In was für einer Welt leben wir eigentlich? Wie kann es sein, dass Kapuzenpullover und Ballettröckchen von Nord nach Süd wandern, von neu nach alt, von jenen, die den Ladenpreis zahlen, zu jenen, die ihre Kleidung zum Kilopreis einkaufen? All diese Fragen waren um ein weiteres Rätsel erweitert worden, um eine Schurkin und deren heimliche Rachephantasie, und das Resultat waren ein schwacher, aber messbarer Anstieg der Telefonate im südlichen Kalifornien. Mütter am Schreibtisch, Mütter nach dem Yoga, Mütter nach einer Teambesprechung, Mütter im Huntington-Museum, im Beverly Center und in
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