In den Häusern der Barbaren
mexikanische Wahlbenachrichtigungskarte heraus und studierte sie, als wollte er die Bedeutung der Worte Instituto Mexicano Electoral ergründen. Der Adler auf dem Emblem hielt eine Schlange in den Klauen. »Interessant. Vermutlich brauchen Sie die, wenn Sie in Mexiko zur Wahl gehen wollen?«
Araceli schwieg und dachte an den kurzen Vortrag des Officers, der sie in den Streifenwagen gesetzt, eine Karte aus seiner Gesäßtasche gezogen und ihr auf Spanisch vorgelesen hatte: Usted tiene el derecho a guardar silencio. Das liebe ich an diesem Land, dachte sie. Das Recht darauf, die Lippen zusammenzukneifen wie eine keusche Nonne im Kloster. Sie haben es in ihrer Verfassung festgeschrieben, kein Polizist und kein Richter kann mich zwingen, den Mund aufzumachen.
»Schon zu Mittag gegessen?«, fragte Detective Blake. »Ich lasse Ihnen gern etwas kommen. Aber zuerst müssen Sie mit mir reden.«
»Oder wir schicken Sie ohne Mittagessen in Ihre hübsche kleine Zelle zurück«, sagte Goller.
»Hören Sie, ich bin mir sicher, dass es sich um ein reines Missverständnis handelt, nicht wahr?«, sagte Detective Blake. »Erklären Sie es uns.«
Araceli blickte fest in seine amerikanischen Augen und fragte sich, ob sie ihm vertrauen könne.
»Wir wissen, dass Sie fließend Englisch sprechen«, sagte der Staatsanwalt barsch. Ian Goller hatte diese wichtige Information am Paseo Linda Bonita von Maureen erhalten, und nun war er der Überzeugung, dass Araceli sich mit Absicht dumm stellte, was seinen Frust nur steigerte. Er hatte es unzählige Male erlebt; verdächtige oder kriminelle Ausländer glaubten tatsächlich, ihre Muttersprache entbinde sie von der Pflicht, die Wahrheit zu sagen. »Warum also sind Sie weggelaufen?«
Weil diese Frage vor Dummheit nur so strotzte, hätte Araceli sie fast beantwortet. Warum läuft der Hase vor dem Fuchs weg? , wollte sie sagen. Warum flüchtet die Henne vor der Frau mit dem Messer in der Hand? Stattdessen verengte sie die Augen und imitierte den verärgerten Blick einer mexikanischen Grundschullehrerin.
»Wollen Sie wieder in Ihre Zelle?«, schnauzte Goller. »Wir schicken Sie sofort zurück. Ohne Mittagessen. Oder Sie verraten uns einfach, was Sie vorhatten. Wozu haben Sie die beiden Jungs auf einen Ausflug mitgenommen? Zu welchem Zweck? Wo wollten Sie hin?« Es war Ewigkeiten her, seitdem Ian Goller zuletzt einer Verdächtigen gegenübergesessen hatte – inzwischen arbeitete er fast nur noch in der Verwaltung –, und er fiel schnell in eine schlechte Angewohnheit aus seinen Anfängen als Staatsanwalt zurück: Er verlor die professionelle Distanz. »Für mich stellt es sich folgendermaßen dar: Sie haben die Kinder ohne Erlaubnis der Eltern in einen besonders gefährlichen Stadtteil verschleppt. Zurück blieben die verantwortungsbewussten Eltern, die krank vor Sorge waren und keine Ahnung hatten, wo Sie sein könnten.« Der Detective neben Goller wirkte gereizt, was Goller jedoch nicht bemerkte, und selbst wenn: Er hätte sein Verhalten ohnehin nicht geändert. »Sie haben sich nie sonderlich hervorgetan, wenn es um das Wohl dieser beiden Jungen ging, und sobald Sie das erste Mal mit ihnen allein waren, sind Sie abgehauen. Warum?«
Dem Vertreter des Bezirksstaatsanwaltes entging die Bestürzung, die sich plötzlich auf Aracelis Gesicht ausbreitete, nicht jedoch dem Detective. Blake beschloss, erneut die Gesprächsführung zu übernehmen. Aber noch bevor er etwas sagen konnte, platzte Goller heraus: »Was haben Sie sich dabei gedacht? Dass Sie die Mutter sind? Oder ging es Ihnen einfach nur ums Geld? Sie sind ganz offensichtlich für Ihre Arbeit nicht angemessen bezahlt worden. Richtig? Deswegen wollten Sie mehr Geld.«
Araceli nahm sich einen Moment Zeit, um die Unterstellung zu verdauen und den Mann, der sie vorgebracht hatte, in Ruhe zu mustern. Die zornige Verbitterung, mit der sich der Staatsanwalt auf sein selbst entworfenes Bild von ihr stürzte, verblüffte sie. Offenbar nahm er an, es mangele ihr grundlegend an Moral und Intelligenz; gleichzeitig hielt er sie für schlau genug, kriminelle Pläne zu schmieden. In Mexiko hielten gewisse Hinterwäldler bis heute an einem ähnlichen Frauenbild fest, und für einen kurzen Augenblick fühlte Araceli sich an einige üble Erlebnisse in ihrer Vergangenheit erinnert. »Sie haben es nicht länger ertragen, für diese Familie zu arbeiten«, fuhr Ian Goller fort und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzen zurücksinken, so als habe er sie
Weitere Kostenlose Bücher