In den Häusern der Barbaren
Ausblick hier oben einfach großartig. Ich bin ein bisschen angefressen, weil wir den Sonnenuntergang wohl verpassen werden. Außerdem finde ich diesen Wüstengarten wirklich schön, wenn auch ein bisschen protzig.« Die Kollegen warfen ihr eisige Blicke zu, was sie nicht weiter zu stören schien. »Und meiner professionellen Meinung nach handelt es sich bei Brandon um einen spannenden Fall. Er verfügt über die Ausdrucks- und Lesekompetenz eines Achtzehnjährigen, aber sein Sozialverhalten ist auf dem Stand eines Siebenjährigen, was kaum verwundern kann. Immerhin wächst er hier oben sehr behütet auf und besucht die teuerste Privatschule des County, die zudem für ihre Hätscheleien bekannt ist. Ich vermute, dass er einfach nur zu viele Bücher gelesen hat.«
»So wie ich das sehe, hat der Junge lediglich bestätigt, was das Kindermädchen unserem Detective hier erzählt hat«, sagte Olivia Garza. »Sie hat behauptet, sie habe die Kinder zum Großvater bringen wollen. Richtig, Detective? Das hat der Junge bestätigt. Er hat gesagt, sie wären mit dem Kindermädchen allein gewesen und hätten sich auf die Suche nach dem Großvater gemacht.«
»Aber er hat nicht genau sagen können, wann«, gab Detective Blake zu bedenken.
»Kinder haben absolut kein Zeitgefühl«, sagte die Psychologin.
»Ist ja noch einmal alles gut gegangen, das ist meine Meinung«, sagte Detective Blake. »Ich finde, wir haben keinen Grund, die mexikanische Lady noch länger festzuhalten.«
»Dann wollen Sie die Aussage der Eltern einfach übergehen?«, ging Goller dazwischen. »Sollten wir nicht wenigstens wegen Gefährdung des Kindswohls ermitteln?«
»Elf-eins-fünfundsechzig Absatz zwei?«, fragte Blake. »Durch die Eltern? Oder durch die Angestellte?«
»Nein, nicht durch die Eltern. Die haben die Kinder doch unter Aufsicht einer Erwachsenen gestellt«, antwortete Goller. »Ich dachte vielmehr an zwei-dreiundsiebzig A.«
»Interessant«, sagte Dr. Gelfand-Peña. Sie wollte damit ironisch ausdrücken, dass sie den Vorwurf der Kindesmisshandlung in diesem Fall für weit hergeholt hielt.
»Wirklich?«, fragte Olivia Garza.
»Liegen Hinweise auf eines dieser Vergehen vor?«, fragte Detective Blake.
»Erinnern Sie sich an die erste Adresse, zu der die Opfer offenbar gebracht worden sind?«, sagte Goller. »Ich habe das LAPD angerufen. Liegt mitten im Textilbezirk von L. A ., total von Gangs verseucht. Wenn die Verschleppung zweier Kinder aus Orange County in dieses Drecksloch kein zwei-dreiundsiebzig A ist, weiß ich auch nicht.«
»Straftat nach zwei-dreiundsiebzig A?«, sagte Detective Blake. »Auf keinen Fall. Fahrlässigkeit nach zwei-dreiundsiebzig A? Möglicherweise.«
»Wollen wir die Eltern noch einmal befragen?«, schlug Olivia Garza vor.
»Die Aussagen liegen vor«, sagte Goller.
»Können wir das Ganze nicht einfach auf sich beruhen lassen?«, fragte Jennifer Gelfand-Peña.
Kollektives Schweigen machte sich breit, während die ranghöheren Mitglieder des Kriseninterventionsteams – Goller, Blake und Garza – einander anstarrten wie pistoleros im Western. Wer zuerst blinzelte, hatte verloren. In Wahrheit erforderte es einigen Mut, wenn man erst einmal so viele Mitarbeiter mobilisiert hatte wie in diesem Fall, sich hinzustellen und zu sagen: Sorry, Fehlalarm! Immerhin hatte man die Gegend von K-9-Einheiten durchkämmen lassen, Hilfspolizisten durch die Graslandschaft geschickt, den Namen einer Verdächtigen veröffentlicht und ein konkretes Verbrechen benannt. Man hatte einen AMBER -Alarm ausgegeben und die Grenze stundenlang praktisch dichtgemacht, alles zum Schutze zweier Jungen aus Orange County. Irgendjemand musste die Verantwortung für den Schlamassel übernehmen.
»Nach allem, was ich weiß«, sagte Goller schließlich, »und was ich den Gesprächen mit der Familie und mit dieser Frau entnehmen konnte, halte ich es für offenkundig, dass Ms Ramirez ihre Arbeitgeber nicht leiden konnte. Deswegen ist sie auf die Idee gekommen, die Kinder irgendwo auszusetzen. An irgendeinem schrecklichen Ort. Wenn sie diese Jungen ›vorsätzlich‹ in eine gefährliche Lage gebracht hat, ist das zwei-dreiundsiebzig A. So sieht es das Gesetz.«
Detective Blake war nicht überzeugt. Er ahnte, dass bei diesem Drama wie so oft politische Motive eine Rolle spielten und der Staatsanwalt das übliche Theater veranstaltete. »Nun, dann rufen Sie jetzt Ihren Vorgesetzten an, Mr Goller, und ich meinen.«
»Wissen Sie, Goller, manchmal
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