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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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laufen lässt, zumal wenn sie kurz zuvor noch der Kindesentführung verdächtigt wurde.«
    »Kindesentführung?«, sagte Scott. »Ist das nicht ein bisschen …«
    »Der Pressesprecher musste die Meute irgendwie abspeisen«, erklärte Goller, »deswegen hat er ihnen, um es kurz zu machen, Sie zum Fraß vorgeworfen.«
    »Uns?«, fragte Maureen.
    »Sobald er das gesagt hatte, ist nämlich Bewegung in die Menge gekommen. Die Reporter haben angefangen, mit Wörtern wie ›unverantwortlich‹ und ›Vernachlässigung‹ um sich zu schmeißen, und sie wollten wissen, ob wir gegen Sie ›ermitteln‹ werden. Das sind Reporter, die wissen nicht, wovon sie reden. Aber sobald diese Fragen öffentlich werden, wird das Jugendamt auf Sie aufmerksam.« In knappen Worten schilderte Goller die bürokratischen Mühlen, in die Maureen, Scott und die Kinder in absehbarer Zeit geraten würden. Es sei sogar denkbar, dass selbst so vorbildliche Eltern wie sie sich unversehens vor einem ungnädig gestimmten Familienrichter wiederfinden würden. Es dürfe eigentlich nicht sein, dass Eltern, die sich auf der Suche nach ihren Kindern bei der Polizei melden, ins Visier des Jugendamtes geraten, einer kruden, unter Personalmangel leidenden Institution, die Goller zufolge darauf aus war, alle Eltern unter der Lupe des größtmöglichen Misstrauens zu betrachten.
    »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Maureen schließlich.
    »Erstens gehen Sie da raus. Sie bleiben ganz ruhig und zeigen diesen Leuten, wer Sie wirklich sind«, sagte Goller. »Sie sind das perfekte Abbild einer glücklichen kalifornischen Familie. Allein Ihr Auftritt da draußen wird dafür sorgen, dass die Wogen sich glätten, um es metaphorisch auszudrücken. Gehen Sie auf keine Fragen ein. Bedanken Sie sich nur beim Sheriff und der Polizei von Huntington Park und bei den Medien – vergessen Sie bloß die Medien nicht! Bedanken Sie sich bei allen für die Unterstützung, die sie bei der Suche nach Ihren Söhnen geleistet haben. Ignorieren Sie alle Fragen, die Ihnen zugerufen werden. Sie bedanken sich und kommen anschließend wieder rein, okay?«
    Scott war immer noch dabei, die Anweisungen zu verarbeiten, als er auf den Rasen hinaustrat. Maureen folgte ihm mit Samantha an der Schulter. Die Jungen warteten in ihren Zimmern, mit dem Staatsanwalt. Wie eine verurteilte Familie schritten die Eheleute gesenkten Kopfes voran, bis an die Stelle, wo der Rasen zur Straße hin sanft abfiel. Dort standen zwei Halterungen, an denen eine Traube von Mikrofonen befestigt war, deren Metallteile im gleißenden, alles überstrahlenden Licht der Fernsehscheinwerfer glänzten. Scott spürte die Wärme der Leuchten auf seiner Haut, und plötzlich fühlte er sich entblößt wie nie zuvor in seinem Erwachsenenleben. Hier stehen wir vor euch, meine amerikanische Familie und ich. Habt Mitleid mit mir, dem stümperhaften Ernährer und Beschützer, und mit meinen Lieben, denn sie können nichts dafür . Er trat vor die Mikrofone, aber noch bevor er der Mund aufmachen konnte, schrie jemand: »Torres mit s oder z ?«
    » S «, antwortete Scott und musste lächeln, denn die Frage beruhigte ihn und holte ihn in die Realität zurück.
    »Ich, wir, meine Frau und ich … wir möchten uns bei Ihnen allen bedanken«, fing Scott an. »Bei der Polizei, bei den Mitarbeitern vom Jugendamt, bei allen. Und auch bei den Medien, die unseren Hilferuf weitergetragen haben. Brandon und Keenan sind zu Hause und in Sicherheit. Es geht ihnen gut.« Nach zehn Sekunden hatte er alles gesagt, was ihm einfiel.
    »Sind sie entführt worden?«, fragte eine Männerstimme in unverhohlen skeptischem, ironischem Ton. »Gab es ein Erpresserschreiben?«
    Scott verstand, wie weise Ian Gollers Rat gewesen war. Vor diesem versammelten Lumpenpack die ganze komplizierte Wahrheit auszubreiten würde einem Selbstmord gleichkommen. »Wir sind froh, dass es vorbei ist«, ignorierte er die Zwischenfrage. »Danke, dass Sie gekommen sind.« Er spürte sofort, dass er mit dem Versuch, einen Schlusspunkt zu setzen, kläglich gescheitert war. In der sich scheinbar ewig ausdehnenden Stille, die nun folgte, wurde ihm bewusst, dass er, Maureen und Samantha live im Fernsehen waren; er sah eine bewegte Miniatur des Familienporträts in fünf verschiedenen Monitoren, die zu Füßen der Reporter standen. Am unteren Bildrand stand in unterschiedlichen Schriftarten die Zeile »Live von den Laguna Rancho Estates« eingeblendet. »Also dann, guten Abend. Und

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