In den Häusern der Barbaren
vielen Dank.«
Maureen formte das Guten Abend mit den Lippen stumm nach, was ein wenig melodramatisch und gekünstelt wirkte. Sie wollten sich gerade zum Gehen umdrehen, als sich hinter der blendenden Lichtmauer eine dröhnende Stimme erhob.
»Aus Polizeiquellen habe ich erfahren, dass Sie Ihre Kinder, Zitat, ›im Stich gelassen haben‹, vier Tage lang. Angeblich sind Sie einfach abgetaucht. Warum?« Die simple Frage traf Scott und Maureen völlig unvorbereitet. Die Stimme gehörte dem KFWB -Moderatorenveteran, der erst Minuten zuvor vor Ort eingetroffen war. Er war direkt von der Polizeiwache in South County hergerast, ohne sein Getriebe zu schonen; die inoffizielle Unterhaltung mit dem dortigen Detective kurz vor Aracelis Entlassung hatte die Sicht des Journalisten auf die arme Mexikanerin vollkommen verändert.
»Warum haben Sie sie vier Tage allein gelassen in dem Haus dort?« Keiner der Kollegen wunderte sich über die unverblümten Fragen. Seine nervtötende Ungeduld Interviewpartnern gegenüber war legendär, Höhepunkt war eine live gesendete Demontage des Presseoffiziers des US -Army-Nahostkommandos in Riad während des Ersten Golfkriegs gewesen. »Eine simple Frage. Haben Sie Ihre Kinder einfach dieser illegalen Einwanderin überlassen?«
Maureen konnte den Fragesteller nicht sehen, diesen Fremden, der sich auf ihrem Privatgrundstück aufhielt und sie live und vor Fernsehpublikum abschlachten wollte. Er versteckte sich hinter der Mauer von Kameras, hinter der weißen Lichtwolke, die über den Köpfen der Reporter explodierte, er schrie sie an. »Das ist gelogen!«, keifte Maureen zurück. Ihr blieb ein kurzer Moment zum Nachdenken, so verzweifelt war ich noch nie in meinem Leben, sie übersah jedoch das überraschte und leicht angewiderte Gesicht der Reporterin in der ersten Reihe, das ihr möglicherweise einen Hinweis auf die zu erwartenden Reaktionen des Fernsehpublikums hätte liefern können. »Was fällt Ihnen ein?« Nach sechsunddreißig schlaflosen Stunden waren ihre Lider so schwer wie die einer Amnesiekranken, aber sie konnte nicht dulden, dass ein vollkommen Fremder sie als schlechte Mutter abstempelte. Ihr Haar war platt und strähnig, sie trug noch dasselbe Kleid, mit dem sie sich bei ihrer Abfahrt in der Wüste ins Auto gesetzt hatte, ein Hängekleid mit Spaghettiträgern und Sonnenblumenmuster, das nun lose von ihren Schultern hing. Ihr wütender Aufschrei ließ sie umso verhärmter wirken, arm und abgehetzt, so als käme sie geradewegs aus einer Reality-Show im Nachmittagsprogramm. Als Maureen diesen Augenblick später im Fernsehen sah, wurde ihr klar, dass sie sich lediglich hatte verteidigen wollen; sie war noch verzweifelter gewesen als damals mit neunzehn, als sie sich aus der verschwitzten Umklammerung eines betrunkenen Kommilitonen zu befreien versuchte und zum einzigen Mal im Leben Zähne und Krallen einsetzte, um jemanden ernstlich zu verletzen. »Ich habe meine Kinder nicht vernachlässigt. Das ist eine bösartige, niederträchtige Lüge!«
»Ja, klar, schon verstanden«, antwortete der Reporter in sarkastischem Tonfall.
»Pete, reiß dich zusammen«, sagte ein anderer.
»Kommen Sie, erzählen Sie uns, was passiert ist.«
Maureen blinzelte und suchte ein letztes Mal die Umrisse der Reportermeute ab, bevor sie kehrtmachte und ging. Scott murmelte ein Dankeschön in die Mikrofone und hastete hinterher.
Araceli hatte befürchtet, die Kameraleute vor der Polizeiwache würden sie verfolgen, aber es kam anders. Eilig bog sie um die Ecke, überquerte den Parkplatz der Wache, lief an der Flotte der Streifenwagen vorbei und ins menschenleere Zentrum von Aliso Viejo hinein, in dessen Straßen sich nach halb fünf keine Fußgänger mehr aufhielten. Die Polizisten hatten ihr das Geld zurückgegeben, und in diesem ersten Augenblick in Freiheit musste sie kurz über diese eigentümliche Ehrlichkeit nachdenken. In Mexiko nannte man das transparencia , ein Gedanke, der hier von dem großen, durchsichtigen Plastikbeutel symbolisiert worden war, in den man ihre Habseligkeiten nach der Bestandsaufnahme gesteckt hatte. Na, das ist mal ein Beispiel für el primer mundo. In Mexiko bezahlte man für seine Freiheit in bar, und die Polizisten sorgten dafür, dass man die Wache mit nicht mehr verließ als den zerknitterten Klamotten, die man am Leib trug, und den blauen Flecken, die man sich im Laufe einer oder zweier Nächte in Haft zugezogen hatte. Einigen ihrer trinkenden Onkel war es so
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