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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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die Arme umeinanderlegten und mit gedämpfter Stimme sprachen. Unheimlicherweise hörte sie einmal in der Woche, wie einer von ihnen einen langen, sieben Noten umfassenden Pfiff ausstieß. Es war eine Art Signal, ein Weckruf, dessen letzter Ton wie eine klägliche Bitte verhallte. Was hatte das zu bedeuten?
    Janet Bryson hatte angefangen, die Mexikaner zu beobachten, so wie sie früher die Papageien beobachtet hatte. Sie gab Begriffe in Suchmaschinen ein, verfasste Briefe und Mails, in denen sie ihrem Gefühl der Entwurzelung Ausdruck verlieh. Sie sah sich selbst als Teil eines Untergrundnetzwerks von besorgten Bürgern, deren vereinzelte Stimmen durch Vororte wie El Monte und Lancaster hallten. Sie allein setzten sich gegen das Übel der bilingualen Schulen und gegen die schlechten Manieren der Zuwanderer zur Wehr, gegen Menschen, die ihre Vorgärten dazu nutzten, um Autos darin zu parken und Wäscheleinen zu spannen. Ihre Internetbekanntschaften hatten ihr von einer Verschwörung erzählt, die auf höchster Regierungs- und Finanzwirtschaftsebene vonstattenging und deren Ziel es war, Kanada, die USA und Mexiko zu einem einzigen Staat zusammenzuführen. Die künftige Währung hieß Amero. Janet hatte schematische Skizzen des Super-Highway gesehen, der Zentralmexiko mit Kansas City verbinden und den Sturz des Landes in die Fremdheit noch beschleunigen würde. Zu sehen, wie die Mexikaner in der Calmada Avenue ihre Verschwörung ausheckten, und gleichzeitig von den viel größeren Plänen zur Umkrempelung des Landes zu lesen, war für Janet wie ein Albtraum: Die Ereignisse waren befremdlich und bedrohlich und außer Kontrolle geraten.
    Janet Bryson ging zur Arbeit, opferte sich auf und behielt die Mexikaner im Blick, alles nur für ihren einzigen Sohn, einen undankbaren Sechzehnjährigen, dessen Englisch bald genauso klang wie das der Mexikaner. Sie hörte es, wenn er die Vokale in Wörtern wie »echt« oder »Typ« zu einem langen Jaulen dehnte oder wenn er ein simples »Und?« wie ein Gangster intonierte. »Warum redest du so?«, fragte sie ihn und fing sich unweigerlich das höhnische Grinsen ein, das seit seinem dreizehnten Geburtstag kaum noch aus seinem Gesicht zu bekommen war. Bevor er seine mexikanischen Freunde kennengelernt hatte, war Carter der Überzeugung gewesen, Mutter und Sohn müssten gegen den Rest der Welt zusammenhalten. Vor Kurzem hatte sie ihm die Schlüssel zu seinem ersten eigenen Auto überreicht, und zum Dank hatte er in der Einfahrt mit einem Mexikaner daran herumgeschraubt. Jeden Nachmittag und fast jeden Abend verschwand er mit seinem alten Toyota Celica und ließ sie allein zu Haus, wo sie sich dann über ihre mexikanischen Nachbarn den Kopf zerbrach oder den Fernseher einschaltete, in dem Nachrichten über Mexikaner liefen. Wenn man genau hinsah, konnte man das Fremde überall entdecken: bei der Waldbrandbekämpfung, bei Basketballspielen, auf Fahndungsfotos. Und in dem Gesicht dieser Frau, dieser Kindesentführerin, die aus unerklärlichen Gründen noch frei herumlief.
    An dem Tag, als Araceli Ramírez zur nationalen Berühmtheit aufstieg, trat Janet Bryson auf die Veranda hinaus und rief ihrem Sohn zu: »Carter! Wo willst du hin?« Er winkte, gab aber keine Antwort. Sie hatte den halben Tag vor dem Fernseher verbracht und, von der Story völlig fasziniert, im Alleingang eine Familientüte Käseflips geleert. Es ist unvernünftig, so zu essen. Aber was sollte sie machen? Die entführten Jungen sahen so aus wie ihr Sohn früher, auf dem Grundschulfoto mit den braunen Klebestreifenresten, das im Flur hing und Carter zeigte, bevor die Hormone seine Oberarme hatten anschwellen und seinen Nacken breit werden lassen. Zwei amerikanische Kinder, die gen Süden verschwunden waren, nach Mexiko. Schutzlos. Als die Headline News die Nachricht von der Rettung der Jungen übertrug, brach Janet tatsächlich in Tränen aus. »Gott sei Dank!« Sie schlich in die Küche und bereitete sich ein spätes Mittagessen zu. Sie ließ den Fernseher auf voller Lautstärke laufen, um nicht zu verpassen, welches Nachspiel die Geschichte haben würde. Und dann hörte sie von der Freilassung der Mexikanerin, von der niederträchtigen Beschuldigung der amerikanischen Eltern.
    Als Maureen rief: »Das ist gelogen!«, teilte Janet Bryson ihre mütterliche Empörung. Sie fühlte sich schlagartig von der dröhnenden, endlosen Sinnlosigkeit befreit, die sich über das Haus senkte, wenn Carter nicht bei ihr war. Wir sollten

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