In den Häusern der Barbaren
Uno, dos, tres Strikes hat man. Beim dritten ist es aus. ¿Entiendes? Meine ersten beiden waren mit meinen verrückten novios . Bewaffneter Raub und ATW . Angriff mit tödlicher Waffe. Und jetzt haben sie mich drangekriegt, weil ich einem Undercover-Bullen auf dem Pico Boulevard schöne Augen gemacht hab. Weil ich diesen Bullen angeguckt und fünfzig Dollar von ihm verlangt hab, muss ich jetzt mit fünfundzwanzig bis lebenslänglich rechnen, ob du’s glaubst oder nicht. Ich hab zu ihm gesagt: ›Okay, Schätzchen, wenn du keine fünfzig hast, reichen auch vierzig‹, und da hat er mir seine Marke gezeigt, der hässliche kleine Scheißer. Also sag ich zu ihm: ›Tun Sie mir das nicht an, Officer, ich flehe Sie an. Ich habe schon zwei Strikes. Ich mach’s Ihnen umsonst, aber lassen Sie mich gehen.‹ Aber der war ein richtiger Spießer, und darum sitz ich jetzt hier, und darum muss ich abhauen.« Sie schaute Araceli mit aufgerissenen Augen an, aus denen gleichermaßen Verzweiflung und Hoffnung leuchteten. »Du verstehst mich nicht, oder?«
»Du willst wegrennen?«
»Ja.«
»Erzähl mir nichts davon«, sagte Araceli. »Ich will keinen Ärger kriegen.«
Die Tür ging auf, und die Verrückte ging mit einem letzten unansehnlichen Lächeln hinaus. Araceli lauschte eine Weile, ob hinter der geschlossenen Tür der Lärm und Aufruhr eines Fluchtversuches zu hören war, aber sie vernahm nur das murmelnde Brummen ruhig gesprochener Worte. Fünf Minuten später kehrte die Zettelfalterin zurück, die Hand voller Papierschnipsel. Sie drehte sich von Araceli weg, schniefte und fing dann laut an zu weinen. Ehe Araceli fragen konnte, was los war, rief der Gerichtsdiener »Ramirez und Jones«, und sie stand auf und folgte der Flechtfrisur in den Gerichtssaal.
Im Gegensatz zu Araceli trug Jones eine dünne Kette um Arme und Beine und einen blauen Einteiler. Der Gerichtsdiener wies Jones einen Platz vorm Richter an und Araceli einen Metallklappstuhl neben der Tür, durch die sie gerade eingetreten waren. Formulare wurden vor Jones ausgebreitet, ein Anwalt setzte sich neben sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie wurde immer wieder gefragt, ob sie eine Erklärung über ihre Rechte und über das Verfahren verstünde. Jones nickte mehrmals, sah ungerührt die Formulare vor sich an sowie den Finger eines Mannes, der entweder Gerichtssekretär oder Anwalt war und ihr die Stellen zeigte, auf die sie schauen solle. Dann reichte er ihr einen Stift, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie unterschrieb. Araceli war noch nie in einem amerikanischen Gerichtssaal gewesen und fragte sich, ob die Verfahren hier immer so abgehandelt wurden, mit Gesten, Murmeln und Flüstern. Fast alle erledigten ihre Aufgabe mit schweren, müden Lidern, sogar der Gerichtsdiener, der die meiste Zeit an seinem Tisch saß. Was machte die Leute so schläfrig? Die frühe Stunde, die langen Reihen von Neonleuchten, irgendwas in der Klimaanlage? Der viele Papierkram, die Formulare in dreifacher Ausfertigung, die hohen Stapel der hellbraunen Schnellhefter? Araceli vermutete, dass das Mädchen mit den schlechten Zähnen und den tres Strikes wirklich zur Flucht entschlossen gewesen war, aber dann war sie eingetreten, und das Licht und das Geleier der gelangweilten Stimmen hatten sie narkotisiert. Der Richter begann nun zu sprechen; er sah aus wie ein Lehrer und klang, als würde er der Angeklagten einen vorbereiteten Text vortragen, wobei er allerdings nicht auf ein Blatt schaute, sondern die Worte vor sich in der Luft abzulesen schien. Was für ein seltsamer Trick! Als die Gefangene aufstand, sah Araceli wieder die zusammengeschlossenen Hand- und Fußfesseln, dabei wirkte die Frau viel zu lethargisch, um irgendjemanden zu gefährden.
Endlich sagte der Richter: »Jetzt kommen wir zu Ramirez, Araceli.«
Sie ging zur Anklagebank, und ein magerer, älterer Mann mit dicker Brille stellte sich neben sie. »Wir sind so weit, Euer Ehren«, sagte er. Araceli wunderte sich über die erste Person Plural, die ihn offenbar zu ihr ins Boot setzte. »Ich bin Ihr Pflichtverteidiger«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Aber nur für heute. Später kriegen Sie jemand anderen.«
Sie nickte und sah sich über die Schulter im Gerichtssaal um: Die Sperre zwischen Aracelis Platz und den Zuschauerbänken mit den Türen am hinteren Ende war tatsächlich sehr niedrig. Die einzige Wache – der Gerichtsdiener – stand neben dem Richter, und auf den Bänken saß ein einziger Zuschauer, ein Mann
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