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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt; denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Sie fühlte sich mit etwas Größerem verbunden. Nicht nur mit der amerikanischen Familie, der man Unrecht getan hatte, sondern mit allen Häusern und Autos, in denen Frauen saßen und in die Stadt hinausstarrten und nicht verstanden, was dort vor sich ging. Sie schaltete das Radio ein, das ihr Sohn zu ihrem Schrecken auf ein spanisches Hip-Hop-Programm eingestellt hatte. Sie suchte einen neuen Sender und hörte schließlich ein bisschen Rock ’n’ Roll aus der Zeit ihres Vaters. Die gut gelaunten, gitarrenlastigen Hymnen mit ihren souligen Refrains entsprachen ihrer gelösten Stimmung. Sie träumte noch vierzig Minuten weiter, Stoßstange an Stoßstange, bis sie den Interstate Highway an der Ausfahrt Carmenita Road verließ.
    John Torres hatte das Haus am Paseo Linda Bonita schon betreten, als Maureen seine Anwesenheit bemerkte. Die nichtsnutzigen Wachleute am Zufahrtstor hatte er mühelos überredet, ihn durchzulassen. Sie glaubten nicht, dass ein Siebzigjähriger etwas Böses im Schilde führen könnte. Maureen fegte gerade die Küche, als er die unverschlossene Haustür öffnete und hereinkam. Er stieg zum Kinderzimmer hinauf, entdeckte seine Enkel – »Ihr lest? An so einem herrlichen Sommertag?« – und hatte sie bereits gedrückt und ihnen zwei Zwanzigdollarscheine zugesteckt, als Maureen ins Zimmer stürzte. Sie warf dem alten Mann einen bösen Blick zu und hatte das Wie kannst du es wagen! schon auf den Lippen. Dann sah sie Brandon und Keenan begeistert mit den grünen Scheinen wedeln.
    »Sieh mal! Grandpa hat uns Geld geschenkt!«
    »Hallo, Schwiegertochter«, sagte John Torres mit gezwungener Fröhlichkeit. Maureen fragte sich, ob er überhaupt wusste, wie sehr sie es verabscheute, so genannt zu werden. Er war gekleidet wie ein wütender Arbeiter, den man zu einer Runde Golf gezwungen hatte. Seine kupferbraunen Wangen hingen ihm bis auf den Kragen seines Poloshirts, und seine Kakihosen wurden nur durch den zwanzig Zentimeter zu langen Gürtel an seiner knochigen Gestalt gehalten. Während er auf eine Antwort wartete, legte er eine Hand an die herabhängende Gürtelzunge; er fühlte sich gemustert und für seine Erscheinung verurteilt. In der Tat hatte Maureen auf seine Hände gestarrt und gedacht, dass die Diskrepanz zwischen dem aquamarin leuchtenden Hemd und den kaputten Fingern die Widersprüchlichkeit des Alten perfekt zum Ausdruck brachte. Nur deswegen verzichtete sie darauf, ihn mit » Hallo, Juan « anzusprechen, was immerhin sein Geburtsname war. Scott hatte es erst vor wenigen Jahren zufällig herausgefunden, als er seinem Vater beim Ordnen der Sozialversicherungsunterlagen behilflich gewesen war; bei seinem letzten Besuch vor zwei Jahren hatte Maureen den Namen dann in eher verächtlichem Ton ausgesprochen. Es war bei Keenans sechstem Geburtstag passiert, als Reaktion auf die ungeheuerliche, bigotte und unzutreffende Bemerkung, Keenan sei der »Weiße« und Brandon der »Mexikaner« in der Familie. So etwas sagte er, wenn er zu viel getrunken hatte, also bei so gut wie jeder Familienfeier. An dem Punkt hatte Maureen beschlossen, ihn für die nächsten zwölf Kindergeburtstage vom Paseo Linda Bonita auszuschließen, mindestens.
    »Hallo, Grandpa Torres. Wie kommen wir zu dem Vergnügen?«
    Er bemerkte Maureens Sarkasmus nicht, weshalb ihn die höfliche Begrüßung stutzen ließ. »Tja, ich habe einen Fernseher«, fing er an, »und so habe ich meine Enkel in den vergangenen Tagen häufig gesehen. Ich habe angerufen und nachgefragt, was bei euch los ist, aber ein fremder Mann ist an den Apparat gegangen und hat sofort aufgelegt. Also habe ich mir gedacht, ich muss wohl selbst herkommen, um nachzusehen.«
    »Wie du siehst, ist hier alles in bester Ordnung.«
    »Wirklich?« Er sah sich im Zimmer um, betrachtete seine Enkel, die damit beschäftigt waren, die beiden Zwanzigdollarscheine in kleinen Plastiksafes zu verstauen. »In der Zeitung steht, gegen euch würde ermittelt.«
    »Nein, Scott hat bloß …« Maureen hielt inne und zeigte auf die Kinder. »Müssen wir das ausgerechnet hier besprechen?« Aber John Torres schaute ihr unbeirrt in die Augen. Offenbar wollte er sich auf der Stelle von seiner väterlichen Besorgnis befreien, ein Impuls, den Maureen gut nachvollziehen konnte. »Scott hat gerade angerufen«, log sie. »Er hat mit den Leuten vom County gesprochen. Sie haben

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