In den Häusern der Barbaren
Schnappschuss mit einem verwirrten und inzwischen verstorbenen US -Präsidenten. Ian Goller würde sich bestenfalls diese Fotos anschauen können, das selbstbewusste Grinsen des Oberstaatsanwalts, und daraus zu lesen versuchen, was er jetzt tun sollte. Er konnte sich sogar vorstellen, was sein Chef sagen würde: Treten Sie die Dose einfach die Straße runter, und warten Sie ab, was passiert. Fünfzig-fünfzig, dass es zu Ihren Gunsten ausgeht.
Der Kollege, den er letztlich mit der Führung des Prozesses beauftragen musste, würde sicherlich empört einwenden, dass der Fall The People vs. Araceli N. Ramirez nicht mal über die niedrige Hürde einer erfolgreichen Vorverhandlung käme. Doch es würde sich schon ein Ausweg auftun, ein naheliegender Deal, der sich geradezu automatisch aus der Anklage ergab, die gerade von der Staatsanwaltschaft eingereicht worden war. Die Anklage würde sich von der Straftat zum Vergehen herunterhandeln lassen, im Austausch gegen ein Schuldeingeständnis. Dann würde man der Angeklagten die Untersuchungshaft anrechnen und sie an die Vertreter der Einwanderungsbehörde im Gefängnis übergeben, und dann würde sie zügig abgeschoben werden, so wie Heerscharen anderer Ausländer vor ihr, die ohne Papiere hier gelandet waren. Wenn die Angeklagte erst aus dem amerikanischen Rechtsraum und dem Medienradar entfernt war, wären die nach Strafe rufenden Wähler zufrieden, und die Angeklagte würde im Gegenzug ihre Freiheit erhalten – in Mexiko. Das war eine Frage der grundsätzlichen Gerechtigkeit den Bürgern Kaliforniens gegenüber. Schließlich gehörte die Beschuldigte zu den über zwei Millionen Einwohnern des Bundesstaates, die Tag für Tag Titel 8, Abschnitt 1325 des amerikanischen Bundesrechts verletzten. Indirekt waren die regionalen Staatsanwälte für die Durchsetzung dieser Rechtsnorm zuständig, indem sie darauf warteten, dass ein jeder dieser zwei Millionen Menschen irgendwann ein Gesetz des Bundesstaats brach, ob das nun Mord oder Trunkenheit am Steuer war. Goller sah in den Handlungen von Araceli N. Ramirez immer noch eine grundlegende Unkenntnis der amerikanischen Sitten; außerdem legte diese Frau die Dreistigkeit und den Hang zur falschen Entscheidung an den Tag, den er auch bei anderen, zweifellos schuldigen Angeklagten schon beobachtet hatte. Er glaubte, der Pflichtverteidiger würde den Deal verlockend finden, solange er oder sie nicht diese Fahrkarten und die Hotelrechnung zu sehen bekam und merkte, auf welch schwachen Füßen die Anklage tatsächlich stand. Glücklicherweise erlaubte die Strafprozessordnung dem Staatsanwalt, derartige Informationen erst nach der langwierigen Vorverhandlung an die Verteidigung weiterzugeben. Da es in der Anklage nicht um Gewaltdelikte ging, würde der Fall sicher einem Pflichtverteidiger niedrigen Ranges zugeteilt werden, und der würde den Handel – Anklageentschärfung gegen Schuldeingeständnis – als leichten Ausweg aus der Sache sehen, eine schnelle Lösung, die ihm oder ihr zusätzliche Zeit zur Bearbeitung der weiteren dreißig oder vierzig Fälle gab, die auf seinem oder ihrem Tisch lagen. Die Abschiebung war dann ohnehin eine Sache der Bundesbehörden, außerhalb der Zuständigkeit der Bezirksbeamten: Am Ende des Gewirrs von Gerichtssälen und Zellen befand sich eine Tür, durch die ein Fünftel aller Angeklagten im County verschwanden; sie führte in einen Strudel heulender spanischsprachiger Seelen, der nach Tijuana oder Mexicali oder andere gottverlassene Orte abfloss. Goller erklärte seinen Mitarbeitern immer wieder, dass jeder Fall, der mit einer Abschiebung endete, ein Sieg für Recht und Gesetz sei. Selbst die liberalsten öffentlichen Verteidiger hatten diesen Zustand längst akzeptiert, und es oblag ihnen, den Angeklagten im Gerichtssaal begreiflich zu machen, dass ihre Abschiebung bevorstand. Oftmals wurde die Nachricht in einem vordergründig glücklichen Moment der Verhandlung weitergegeben, etwa wenn gerade eine Strafe reduziert oder zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dann murmelten die fünfundzwanzigjährigen Pflichtverteidiger ihre Botschaft rasch dem Dolmetscher zu, der sie flüsternd weitergab, und so ergab sich nicht selten die paradoxe Situation, dass die Angeklagten hemmungslos heulten, während der Richter sie aufforderte, sich nach ihrer »Freilassung« besser zu benehmen. Sie weinten, weil ihr amerikanisches Leben zu Ende war, und im Zuschauerraum weinten ihre Söhne und Töchter und Frauen, weil auch
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