In den Häusern der Barbaren
sie die traurige Wahrheit begriffen. Es war grausam, das mitanzusehen, aber so sollte es sein, fand Goller. Es war unvermeidlich, dass auch diese Angeklagte mitsamt ihrer Probleme schon bald durch die Tür nach Mexiko verschwinden würde.
Als er das millimeterdünne Aktenbaby namens The People of the State of California vs. Araceli N. Ramirez betrachtete, sah Ian Goller bereits das schlussendliche Schicksal des Neugeborenen vor sich: Als zentimeterdicker Ordner würde es in das Mausoleum namens Archiv gerollt werden.
An den ersten Tagen ohne Araceli äußerte sich die Unordnung zunächst in Form der ungemachten Betten, deren Decken und Laken bis zum späten Nachmittag als klumpige Stoffkadaver herumlagen. Maureen kümmerte sich allein um diese grundlegende Haushaltstätigkeit, bis sie Scott schließlich tadelte: »Wenn du wenigstens unser Bett machen könntest, bevor du morgens wegfährst.« Er willigte murrend ein, war jedoch nicht sonderlich begabt. War es ihm egal, dass die Überdecke an ihrer Bettseite weit herunterhing, oder hatte er einen Sehfehler? Auch den Jungen würde sie beibringen müssen, ihre Betten selbst zu machen, sie würde ihnen einen Anreiz bieten, vielleicht etwas Taschengeld. Sie sind jetzt alt genug, um ein paar Pflichten zu übernehmen. Ich habe als Kind auch gefegt und meine Sachen zusammengelegt. Dann war da noch die Küche, wo die überfüllte Spüle bald nach einem billigen Diner aussah: Klebrige Töpfe und Pfannen kletterten schon um 10 Uhr morgens über den Rand, und bis Mittag waren die Essensreste angetrocknet. Alle drei Schlafzimmer, die Flure und das Wohnzimmer waren mit verschwitztem Stoff übersät – Hemden, Socken und Unterwäsche aller Größen, außer ihrer eigenen. Sie fand Samanthas schmutzige Socken unterm Sofa, Schlafanzugoberteile im Garten und Bilderbücher unterm Esstisch. Und schließlich Samantha selbst. Sie war zwar das kleinste Familienmitglied, doch sie trug mehr zur Unordnung bei als alle anderen zusammen. Und ihr konnte man nicht sagen, sie solle ihre Handpuppen, Stofflöwen, Gummiklötze, Zauberstäbe aufheben. Offenbar hatte Araceli einen großen Teil ihrer Arbeitszeit damit verbracht, hinter Samantha herzuräumen, man musste sie wirklich ständig im Auge behalten, weshalb Maureen sich um das restliche Haus nicht so sorgfältig kümmern konnte, wie sie das eigentlich hätte tun müssen. Samantha, du bist auf die Welt gekommen, um das Leben deiner Mutter schöner und weiblicher zu machen, aber du machst es vor allem unendlich komplizierter.
Die einzige Lösung war, den Nerd einzuspannen.
»Scott. Der Abwasch. Könntest du bitte?«
Er betrachtete die Ansammlung von Edelstahlschüsseln und Plastiktellern auf den Marmorflächen der Küche, die Überreste dreier Mahlzeiten, Frühstück, Mittagessen und Abendessen. »Wieso benutzt du nicht den Geschirrspüler?«
Maureen gab darauf keine Antwort, ließ jedoch die Aggression ihres Schweigens so lange in der Luft hängen, bis sie endlich das Wasser laufen hörte.
Wenn das Schuljahr anfing und Maureen dreimal die Woche wieder ihren freiwilligen Dienst an der Schule der Jungen übernahm, würde es schwierig werden. Sie musste einen Betreuungsplatz für Samantha finden, denn eines war klar: Sie könnte sich nie wieder eine Fremde zum Arbeiten ins Haus holen.
Mit den Folgen ihrer jahrelangen Bequemlichkeit, der Verwöhnung durch mexikanische Hände, mussten sie nun leben. Jenseits ihres Kokons aus Kiefernholz, Glas und Fliesen, außerhalb des Paseo Linda Bonita erhoben sich Stimmen, die sie verurteilten, und Maureen spürte, wie sie lauter und gehässiger wurden. Um diesen Stimmen zu entrinnen, stürzte sie sich umso entschlossener in die Arbeit, sie kochte, putzte und legte die Wäsche zusammen, als könnte jeder Muskel, den sie im Haushalt trainierte, ihr später beim Bau einer Schutzwand gegen diese fremden Frevler helfen. Aber wie lange konnte man sein Heim in ein Kloster verwandeln, alle Fernseher und Radios abschalten, das Telefon ausstöpseln, ehe man wahnsinnig wurde? Sie versuchte Stephanie Goldman-Arbegast anzurufen, doch nachdem sie Max und Riley zum Spielen im Garten eingeladen und daraufhin nur unbehagliches Schweigen und durchschaubare Ausreden geerntet hatte, mochte sie es nicht noch einmal versuchen. Was habe ich in den Augen meiner Freundin getan, dass sie meine Familie mit einer Distanz behandelt, als hätten wir eine ansteckende Krankheit? Im Laufe dieser Tage begriff Maureen, dass sie einen Teil
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