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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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ihrer selbst verloren hatte, als sie an jenem schicksalhaften Morgen mit Samantha aus der Tür getreten war. Lebwohl, glückliche Unschuld. Sie unterdrückte den Impuls, ihre Mutter anzurufen. Nein, das wäre noch viel schlimmer. Stattdessen schaltete sie das National Public Radio ein und ließ für fünfundvierzig Minuten den leidenschaftslosen Tonfall der nachmittäglichen Reportagen durch Wohnzimmer und Küche klingen. Sie lauschte einer Kaffeemaschine in Prag und der musikalischen Stimme eines Fischers aus Louisiana. Das Programm war ziemlich eklektisch und entspannend, bis sie plötzlich folgende Ansage hörte: »Als Nächstes wenden wir uns nach Kalifornien, zu einer Geschichte, die nach Ansicht vieler den sozialen Graben dieses sonnigen Bundesstaates illustriert. Es geht um den Fall von zwei Kindern, ihren Eltern und einer Mexikanerin …« Maureen sprang mit drei großen Schritten zum Radio und drückte den Aus-Knopf. Sozialer Graben? Mein Zuhause ist ein sozialer Graben?
    Ihr »sozialer Graben« war jetzt ohnehin zugeschüttet, denn Araceli war weg und wieder im Gefängnis. Diese Tatsache gab ihrem Gewissen einen Stich, sobald sie etwas erledigte, das sonst Aracelis Aufgabe gewesen wäre. Wenn sie an der Spüle zum Schwamm griff, wenn sie den Geschirrspüler leerte, wenn sie den Müll nach draußen brachte, hatte sie das Gefühl, in Aracelis Fußstapfen zu treten. Gibt es in den Kreisen der Hölle einen besonderen Platz für Frauen, die ihre Schwester verraten haben? Ich kann die Worte sagen, die Araceli freisprechen: Aber wenn ich das tue, verliere ich dann meine Kinder? Die Wut, die sie in den ersten Tagen auf Araceli gehabt hatte, war inzwischen verflogen. Dem Menschen zu zürnen, der einem die Söhne weggenommen hat, ist eine ganz normale mütterliche Reaktion. Überhaupt wurde ihr schlechtes Gewissen nur noch durch den Staatsanwalt in Schach gehalten, der heute Morgen an ihrer Tür geklingelt hatte – um sie zu »warnen«, dass die »mutmaßliche Entführerin« ihrer Kinder wahrscheinlich infolge eines Geständnisdeals ungeschoren davonkäme. Er schien zu glauben, sie würde verbittert reagieren, würde mütterliche Vorwürfe erheben, und sie verzog auch das Gesicht zu einer simulierten Grimasse, doch in Wirklichkeit war sie erleichtert. Wir haben zusammen an diesem Haus gearbeitet, Araceli und ich, das war unser gemeinsames Projekt. Und nun hat die Welt der Männer, der Nachrichten und der Rechtsprechung einen Keil zwischen uns getrieben. Dann hatte der Staatsanwalt hinzugefügt, dass Araceli wahrscheinlich abgeschoben werden würde, was Maureen zu der Frage hinriss: »Abgeschoben? Wegen eines Bagatelldelikts?« Araceli wäre wahrscheinlich ohnehin abgeschoben worden; das war unvermeidlich, nachdem die Polizei einmal in ihr Haus eingefallen war. Ich bin dafür verantwortlich, dass die Frau, die in unserem Haus gewohnt hat, das Land verlassen muss. Oder eher Scott. Und ich. Wir beide. Diese Dinge gingen ihr durch den Kopf, als sie ihrer Tochter Milch warm machte und einschenkte, und weil sie abgelenkt war, floss die Flasche über, und die Milch lief auf den Tisch, an dem Samantha saß.
    »Milch!«, schrie das Mädchen.
    »Oh mein Gott, Sam, du hast gesprochen! Dein erstes Wort!«
    »Milch!«, wiederholte ihre Kleine.
    Maureen gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und griff nach einem Lappen, um das Verschüttete aufzuwischen. Als sie sich hinkniete, um die weißen Tropfen vom Boden zu wischen, fiel ihr eine kleine Bewegung am Tischbein ins Auge. Es war eine Ameise, und sie reihte sich in eine von zwei Schlangenlinien ein, die auf den Fliesen unter Samanthas Hochstuhl zusammenströmten. Die Ameisen stießen aneinander und umkreisten einen Fleck getrockneten Grießbreis. Maureen folgte ihrer Bahn durchs Esszimmer in die Küche und entdeckte, dass sie in den Garten führte, unter der Tür hindurch, die Araceli früher jeden Morgen beim Arbeitsantritt geöffnet hatte.
    Während Maureen die Ameisen betrachtete und an Araceli dachte, brachte die Geschichte der baldigen Abschiebung einer doméstica den Bürgermeister von Los Angeles zum Nachdenken. Er saß in seinem Lieblingsrestaurant in Downtown und studierte vorgeblich die Speisekarte. »Das Filet mignon ist hier so zart«, sagte der politische Berater des Bürgermeisters, »das kann man mit dem Löffel schneiden.« Der Bürgermeister von Los Angeles blickte über das weiße Tischtuch und die schwitzenden Wasserkelche, und er schüttelte lustlos und

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