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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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abwesend den Kopf.
    »Ich glaube, ich nehme den Thunfischsalat«, sagte er. »Mir ist der Appetit vergangen.«
    Der Bürgermeister war ins Grübeln geraten: zwanzig Minuten nachdenklichen Schweigens, die seinem Berater und sogar den übrigen Gästen des Pacific Dining Car auffielen. Er redete sonst den größten Teil des Tages, ob im Dialog oder Monolog – am Telefon, in seinem Rathausbüro, auf Parkplätzen und Korridoren, in Grundschulaulas, in Donutläden, bei Empfängen in der Westside, in seinem Dienstwagen. Der Bürgermeister war nach eigener Aussage ein pathologischer Plauderer, der gern prahlte, dass er seit seinem fünften Lebensjahr ununterbrochen rede. Er wusste, sein Berater hatte zwei kleine Kinder – er konnte ihn daher schon bei Tagesanbruch anrufen. Genau das hatte er vor sechs Stunden getan, nachdem er den Auftritt eines aufstrebenden Bundesstaatssenators aus Fremont in der Talkshow ¡Despierta America! auf Univision gesehen hatte. »Hey, ich habe gerade Escalante gesehen. Der redet schon wieder über das mexikanische Kindermädchen«, hatte der Bürgermeister ohne Vorrede gesagt. »Er haut jetzt richtig auf den Putz. Gestern war er auf Telemundo. Und irgendwer hat mir erzählt, er hätte auch schon ein paarmal im Radio gesprochen.«
    »Wirklich«, hatte der Berater müde ins Telefon gesagt, während er bei sich zu Hause in der Küche seinem achtjährigen Sohn und seiner sechsjährigen Tochter zusah, wie sie ihren Grießbrei aßen und ihre kastanienbraunen Locken zwirbelten. Der Berater war aus New Jersey hergezogen, hatte italienische Vorfahren und eine wilde, graue Beethovenmähne. Er war vom linken Flugblattschreiber bei den Mietprotesten der Achtziger zum Meistertaktiker des progressiven Demokratenflügels hier im Staat aufgestiegen und hatte als solcher verschiedensten prinzipientreuen und kompetenten Politikern in Amt und Würden verholfen. »Ich finde es ziemlich offensichtlich, wieso Escalante das macht«, fing er an. »Niemand hat ihn auf dem Radar, weil er noch nie irgendwas gerissen hat. Ein Latino-Politiker, der wie wild mit den Armen wedeln muss, damit ihn die Latinos überhaupt bemerken, der kommt nicht weit. Er hat keine Chance, irgendwelche kalifornienweiten Vorwahlen zu gewinnen. Keine.«
    Araceli Ramirez war ein berühmter Fall und beschäftigte immer größere Teile der Stammwählerschaft des Bürgermeisters, aber der Berater stellte sich auf denselben Standpunkt wie bei den beiden früheren Gesprächen über dieses Thema. Auch heute Morgen um Viertel vor sieben in der Küche seines Bungalows im Nordosten von Los Angeles riet er: den Mund halten und keine Stellung beziehen. »Sie sind Bürgermeister von Los Angeles – und das hier ist Orange County. Lassen Sie die Finger davon. Sonst fliegt Ihnen diese verrückte Familie samt Kindermädchen noch um die Ohren.«
    Um Viertel vor sieben hatte der Bürgermeister diesen Ratschlag als sehr vernünftig und wahr empfunden. Er hatte Escalante und die mögliche Märtyrerin in ihrer Zelle in Santa Ana wieder vergessen. Doch am Ende seines dritten und letzten öffentlichen Auftritts heute Vormittag, im Bonaventure Hotel, wurde er unsanft wieder an Aracelis Existenz erinnert. Der Bürgermeister stattete streikenden Hotelangestellten einen Höflichkeitsbesuch ab, und er hatte gerade seine kurze Rede in stark akzentuiertem, aber immer besser werdendem Spanisch beendet, als eines der streikenden Zimmermädchen sein Handgelenk packte und zudrückte. Sie war klein, hatte aber das kantige Gesicht und die kurzen Haare einer Preisboxerin, und sie zog den Bürgermeister zu sich heran. »No tengas miedo« , sagte sie in einem Ton, der ihn an seine verstorbene Mutter erinnerte. »Ponte los pantalones. Di algo para apoyar a Araceli. Me enoja que no hayas dicho nada sobre esa pobra mujer.« Der Bürgermeister lächelte gequält und zog die Hand weg, verblüfft über den kraftvollen Griff der Frau.
    »Sie hat mir gesagt, ich solle mir die Hosen anziehen«, sagte er nun unvermittelt zu seinem Berater, als der Salat kam. »Die Frau am Ende im Hotel. Die Kurze. Haben Sie die gesehen? Ich habe sie sogar erkannt, nachdem sie mich auf sich aufmerksam gemacht hat. Ganz hartnäckige Gewerkschaftlerin. Ist bei allen meinen Wahlkämpfen von Tür zu Tür gelaufen. Sie hat gesagt, sie sei sauer, weil ich nichts über die mexikanische Haushälterin gesagt habe. ›Zieh dir die Hosen an‹, hat sie gesagt, ›und sag was zur Unterstützung Aracelis.‹«
    »Ist das so

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