In den Häusern der Barbaren
zur Seite, bevor er einstieg und der Motor seines alten Dodge mit einem Klappern und Schleifen ansprang, das wie der Beginn eines Folksongs klang. Während der Motor warm lief, widerstand er der Versuchung, SMS an seine Freunde zu schreiben, denn das Ereignis, das er gerade miterlebt hatte, war einfach zu groß, zu monumental, um sich auf die üblichen Abkürzungen und Akronyme reduzieren zu lassen. Giovanni Lozano, sechsundzwanzigjähriger Experte für Chicano-Kultur und Langzeitstudent der California State in Fullerton, hatte Aracelis Fall seit Tagen im Fernsehen verfolgt. Er war der aktivste und meistgelesene Schreiber auf der Seite von La Bloga Latina , die sich Aracelis Fall widmete, und hatte zahlreiche Fans in dem kleinen, aber wachsenden Teil der Hispano-Bevölkerung, den Giovanni gern »die Latino-Intellektuellen, wenn es sie gibt« nannte. Seine Leserschaft setzte sich aus einem Sammelsurium zumeist überqualifizierter College-Absolventen zusammen: unterbezahlten Gemeindeangestellten, unveröffentlichten Schriftstellern, unbestallten Hochschuldozenten, unterschätzten Abteilungsleitern, ungelesenen Dichtern und den Leitern unterfinanzierter gemeinnütziger Organisationen, die versuchten, ein tragisch ungebildetes Volk mit Wohnung, Nahrung und Bildung zu versorgen. Diese Leser wussten sein witziges Spanglish und seine Chicano -Attitüde – ¿Y Qué? – zu schätzen, und dank ihrer Gefolgschaft hatte er die Google-Schlacht gewonnen: Seine Seite hatte zum Thema Araceli Ramirez beinahe doppelt so viele Treffer wie die Webseite der Nativisten von Ein Kalifornien . Beim Fahren begann er im Geiste schon eine prägnante Zusammenfassung der Ereignisse zu formulieren: Araceli Noemi Ramirez ist frei auf Kaution! La Blogas Kampagne war erfolgreich! Gerade haben wir sie in einer Kirche in San Clemente gesehen. ¡Qué mujer! Ihre Rede: knapp und auf den Punkt. Ihre Haltung: künstlerisch und widerspenstig, como siempre. Eine große, kräftige Mexikanerin, die an unserem Taugenichts von Konsul vorbeigerauscht ist, als wäre er gar nicht da! Ha! Auf den ersten Blick, als er sie in der Filmaufnahme unter den Hochspannungsleitungen von Huntington Park laufen sah, hatte Giovanni sie für den Inbegriff der verfolgten, aber hippen mexicana gehalten. Diese Sicht der Dinge war von den Einzelheiten des Falls bestärkt worden, die er tief vergraben in den Nachrichtenbeiträgen zu ihren Verhaftungen entdeckt hatte. Zum Beispiel die Bemerkung von Cynthia Villareal am Ende ihres Artikels in der Times , die Polizei sei in Aracelis Zimmer auf »verstörende Kunst« gestoßen. Giovanni hatte sofort instinktiv begriffen, dass Araceli nicht nur als mexicana schikaniert wurde, sondern auch als Individualistin und Rebellin. Er hatte die Fotogeschichte betrachtet, die den Artikel in der Times begleitete, und den Leser seines Blogs auf die winzigen Silberstecker in Aracelis Ohrläppchen hingewiesen, auf die zu engen Leggings, auf die weite Bluse mit dem weiten Ausschnitt und dem kleinen bestickten Kragenrand – geschmackvolle Oaxaca-Ware, die nicht zu folkloristisch wirkte.
Araceli war eine Art Gegengift zu all den traurigen Razzien am Arbeitsplatz und den unendlich vielen Abschiebungen; sie stand für die kultivierte Welt, als die er und seine zumeist in den USA geborenen Leser sich Mexiko vorstellten. Sie war ein historisches Ereignis, das in Giovanni Lozanos provinziellen Winkel der Welt gefallen war und nun das Potenzial besaß, die Massen von Menschen mit spanischen Nachnamen von ihrer Selbstzufriedenheit und Realitätsblindheit zu heilen. Menschen wie seine eingewanderte Mutter, die zu Hause in Garden Grove die Rosen pflegte und Giovanni erzählen wollte, sie spüre den Heiligen Geist im Windhauch zwischen den Blüten. Seine Mutter tat so, als würde es sie nicht kümmern, wenn er ihr erzählte, wie sie und ihr Volk in Radio und Fernsehen, in Gerichten und Geschäften beleidigt wurden, von Rassisten, die allem und jedem mit mittelamerikanischem Blut in den Adern die Beleidigung »illegal« anhängen wollten. Siehst du das nicht, Mutter? , wollte er sagen. Sie wollen uns vernichten! Uns alle abschieben! Das ist ein Krieg gegen unsere Kultur!
Nein, meine Leute verstehen kein Geschrei. Sie verstehen nur Opfer und Helden , dachte er. Also würde er ihnen eine Ikone schenken. Er würde eines dieser Fotos von Araceli von der Zeitungsseite nehmen und daraus ein Kunstwerk machen, ein Porträtposter. Er würde Aracelis Gesicht vervielfachen,
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