In den Häusern der Barbaren
nach Brooklyn. »Hier geht es um Rassismus; es geht darum, dass die Mächtigen ihr Gesetz gegen die Schwachen durchsetzen.« Mehrere Zuschauer nickten zustimmend, denn Glass hatte eine Wahrheit ausgesprochen, die selbst Araceli trotz ihres Lampenfiebers anerkannte. »Aber wir sind heute alle hier, um zu sagen, dass wir genug haben von den Polizeirazzien. Wir haben genug von den Belästigungen junger Latinos und Latinas, wir haben genug von der migra .« Seine Stimme hob sich weiter, weil auch das Publikum lauter wurde, Menschen riefen »Ja!« – so wie bei einem evangelikalen Gottesdienst.
»Und dieser Fall, diese Anklage gegen unsere Freundin Araceli ist das Allerschlimmste. Sie hat absolut nichts verbrochen. Nichts!« Jetzt spuckte er ins Mikrofon. »Und wenn sie Araceli Ramirez für nichts und wieder nichts einsperren und ihr die Freiheit rauben können, dann können sie das auch mit jedem von uns. Aber wir werden das nicht länger dulden! Wir werden nicht erlauben, dass unsere Latino-Freunde und -Freundinnen so unter Druck gesetzt werden!« Jetzt erhoben sich fast alle, einige riefen Worte, die Araceli nicht verstand, sie wollten mehr hören, aber Glass schien fertig zu sein. Er wandte sich Araceli zu, die hinter seiner Schulter stand, und sah sie an: Sie war an der Reihe.
»No sé qué decir« , flüsterte sie ihm ins Ohr. Einhundert Zuschauer standen da unten vor ihren Klappstühlen und schauten sie an.
»Sagen Sie einfach, dass Sie auf Gerechtigkeit hoffen«, sagte er.
Glass legte ihr die Hand auf den Rücken und schob sie sanft ans Mikrofon. Sie hielt ihre Lippen dicht davor und sagte leise: »Quiero justicia.« Der metallisch gewordene Klang ihrer Stimme hallte von den Wänden wider. »No hice nada.« Sie hielt inne und fragte sich, was sie noch sagen könnte, denn plötzlich fiel ihr nichts mehr ein, so als hätte sie ihr Redemanuskript zur Hand genommen und nur leere Blätter vor sich. Mehr habe ich nicht zu sagen? »No hice nada« , wiederholte sie und kam sich vor wie ein Papagei. »Soy inocente.« Sie hatten einen Wasserfall von Worten erwartet, und jetzt wollte sie ihr Publikum nicht enttäuschen, doch das Gefühl der Dringlichkeit knebelte sie nur noch mehr. »No sé qué mas decir« , sagte sie mit einem nervösen Beinahekichern, das sie als Geräusch ihres Versagens in Erinnerung behalten würde. Einer der rasierten Schädel in der hinteren Reihe fing ganz allein an zu klatschen. Und dann war es so, als sei ein Damm gebrochen, denn alle fielen ein, und der Applaus wurde eine Klangwelle, die auf dem Weg nach vorn dichter wurde und sich zu ihren Füßen an der Bühne brach. Jetzt wusste sie, was sie noch sagen konnte: Sie würde den Leuten danken, die ihre Kaution bezahlt hatten, und Glass, weil er sie aus dem Gefängnis geholt hatte, und sie würde alles bekräftigen, was Glass gesagt hatte. Doch jetzt, da sie die Worte gefunden hatte, konnte sie keines mehr sagen, denn der Applaus ging weiter, hatte eine Eigendynamik entwickelt, die Leute wollten unbedingt weiterklatschen, wollten den Beifall nicht abebben lassen. Die Applaudierenden schauten sie mit einer Art überdrehtem Stolz an, als hätte sie gerade einen Orden an die Brust geheftet bekommen. In der ersten Reihe saß ein junger Mann mit einem losen Ledergürtel, der mit pyramidenförmigen Nieten besetzt war. Seine Jeans war an den Knien modisch eingerissen, und sie hatte genug Zeit für den Gedanken, dass sein Stil ihr gefiel. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass er weinte. Eigentlich würde er gut nach Mexiko City passen, abgesehen von der Tatsache, dass er beim Klatschen weint – in meiner Stadt sind wir entweder fröhlich oder verdrießlich, aber selten beides auf einmal. Vielleicht würden sie aufhören, wenn sie auch anfinge zu klatschen. Glass legte ihr wieder die Hand auf den Rücken, und sie verstand; sie trat vom Mikrofon weg und folgte ihm von der Bühne, wo alle die Hände ausstreckten, um ihre zu schütteln.
Hätte Giovanni Lozano nicht geweint und gelacht, als Araceli ihn entdeckte, hätte sie sein Outfit vielleicht noch länger bewundert, die vertrauten Punk-Accessoires, die in Mexiko City immer noch genauso populär waren wie in Los Angeles. An seiner schwarzen Jeansjacke steckte der Kein-Mensch-ist-illegal-Button gleich neben dem der Ramones, dazu die zerrissene Jeans mit dem Ledergürtel; er lief mit dem federnden Mir-doch-scheißegal-Gang eines sexbesessenen Rockstars zum Auto. Er warf die pechschwarzen Ponyfransen
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