In den Häusern der Barbaren
Araceli war noch im Gästehaus, hatte noch nicht angefangen zu arbeiten, war durch zwei Hauswände von Brandon und Keenan getrennt. Verdammt! Jetzt loszufahren hieße ein mütterliches Tabu brechen. Sie würde Samantha zurück ins Haus tragen und ihre Flucht von Neuem beginnen müssen. Wenn ich wieder reingehe, gehe ich vielleicht gar nicht mehr weg, vielleicht verliere ich den Mut. Sie öffnete das Garagentor, um sicherzugehen, dass Scotts Wagen nicht einfach in der Auffahrt stand, trat dann in die Morgenluft. Kurz darauf ging in der Küche das Licht an, und von der Einfahrt aus konnte Maureen den schläfrigen Widerwillen in der Miene ihrer mexikanischen Angestellten erkennen, die nun mit der Zubereitung des Frühstücks begann. Araceli war im Haus, und dieser Anblick genügte, um Maureen wieder auf den Weg zu bringen. Sie überließ sich dem Bewegungsimpuls und ihrem persönlichen Befreiungsplan. Sie öffnete die Autotür und seufzte leise, als sie sich von der Last ihrer schlafenden Tochter befreite und sie in den Kindersitz schnallte. Sie hatte eine vage Vorstellung, wohin sie wollte: in dieses Wellnesshotel in den Wüstenbergen hoch überm Joshua-Tree-Nationalpark, von dem sie im Feuilleton ihrer Tageszeitung gelesen hatte; es sollte dort sogar im Sommer relativ kühl sein und Babysitter geben, die sich um die Kinder kümmerten, während man selbst sich mit Dampf und Lavendelduft verwöhnen ließ.
Maureen war schon vor den Toren der Wohnanlage und bog auf die Straße ein, die durch die Felder führte, als ihr auffiel, dass sie ihr Handy vergessen hatte. Es war zu spät, noch einmal umzukehren, wenn sie das tat, würde sie ihre Expedition gleich ganz abbrechen können. Also fuhr sie zur nächsten Tankstelle und rief von einem Münztelefon die Auskunft an, danach einen halb wachen Angestellten des Wellnessresorts, bei dem sie ein Zimmer reservierte. Minuten später fuhren Mutter und Tochter auf dem frühmorgendlich freien Highway aus der Stadt hinaus zügig Richtung Osten, während in Gegenrichtung dichter Verkehr sich zäh in die Hügel am Rand der Metropole schob.
Im Spielzimmer, auf dem Boden vor dem Flachbildschirm und der Spielkonsole, erwachte Scott Torres um 5 Uhr 35 aus überraschend störungsfreiem Schlaf, sechs Stunden, in denen sich die Erinnerung an die gestrigen Geschehnisse im tintenschwarzen Würfel des lichtlosen Zimmers aufgelöst hatte, und so verharrte er kurz in seliger Ahnungslosigkeit. Doch nur drei Sekunden später liefen die Ereignisse im Wohnzimmer vor seinem geistigen Auge mit der klaren Einfachheit jener PowerPoint-Präsentationen ab, die dauernd vom Management im vierten Stock bei Elysian Systems ersonnen wurden. Das Stakkato der gegenseitigen Beleidigungen fiel ihm wieder ein, jede etwas gröber als die vorherige, dann sein Versuch wegzukommen, während Maureen ihm durchs Zimmer folgte und seine Schulterblätter anschrie. Das passiert, wenn man Frauen so nennt, wie man sie nie nennen sollte: Entweder ziehen sie schmollend ab oder gehen mit doppelter Wut auf dich los. Sie hatte den Gegenangriff mit gehässigen Kommentaren eingeleitet: Scott könne nicht über den Rand »dieses schäbigen Gipssarges« hinaussehen, in dem seine Mutter nach der Trennung von seinem Vater ihre letzten Tage allein verbracht hatte. Diese Bemerkung war so erschreckend kaltherzig gewesen, dass der Streit zum Erliegen kam. Scott ging auf, dass er eine Frau geheiratet hatte, die sogar die Toten beleidigte. Er hatte auf seine Hände gesehen und überlegt, wie er seinen Willen doch noch würde durchsetzen können, und genau in dem Augenblick hatte Maureen einen Schritt auf ihn zugemacht, um weiter zu streiten: Er hatte sie mit all der wütenden Kraft weggeschubst, die ein Mann Anfang vierzig aufbringen konnte, ein halb abwehrender Stoß, der sie rückwärts auf den Couchtisch hatte stürzen lassen.
Kurz bevor sie fiel, war er einen Augenblick lang seltsam und kindisch befriedigt gewesen. Endlich! Als sie auf den Tisch prallte – so zerbrechlich, dieses mexikanische Stück Kunsthandwerk – und Araceli ins Zimmer kam, war das Gefühl wieder verschwunden. Jetzt empfand er nur noch eine hohle Taubheit zwischen den Augen. Maureen hatte sein Vertrauen missbraucht, als sie das Geld ausgab, sie hatte der Familie geschadet, aber natürlich hatte umgekehrt er seine moralische Überlegenheit eingebüßt, als er sie gewaltsam von sich stieß. Würde sie ihm diesen Sturz jemals vergeben, das Gesamtbild der Ereignisse sehen,
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