In den Häusern der Barbaren
der Couchtisch gewesen war, und versuchte herauszufinden, was genau in diesem Haushalt vor sich ging.
Nachdem das letzte Mittagsgeschirr weggeräumt worden war, ungefähr zu der Zeit, als Araceli das Putenhackfleisch aus dem Tiefkühlfach nahm, um es fürs Abendessen aufzutauen, begann sie mit dem Gedanken zu spielen, Maureen auf dem Handy anzurufen. Das ging allerdings ein wenig gegen die Etikette. Trotz all ihrer Dreistigkeit und geistigen Unabhängigkeit war Araceli dennoch an gewisse Gewohnheiten und Rituale gewöhnt, und ihre eindeutig niedrigere gesellschaftliche Stellung hielt sie davon ab, einfach zum Hörer zu greifen und ihre jefa zu fragen: Wo sind Sie, und wann kommen Sie wieder nach Hause? Das stand Araceli nicht zu; sie musste eine Ausrede finden, irgendwas im Zusammenhang mit ihren beruflichen Pflichten. Fast eine Stunde verging damit, dass Araceli geistesabwesend Arbeitsflächen und Tischplatten und Fußböden wischte, die bereits so fleckenlos glänzten, wie es nur möglich war, ehe ihr etwas Plausibles einfiel: Sie würde Maureen einfach fragen, ob die Kinder Spanischen Reis zum Abendessen bekommen sollten. Das war zwar ein irgendwie fadenscheiniger Vorwand, aber immerhin hatte la señora vor Beginn der Sommerferien ausdrücklich erwähnt, dass der Geschmack der Jungen erweitert werden und etwas mehr Gemüse Einzug in ihre fast nur aus Fertigfleischprodukten und Käse bestehende Ernährung erhalten solle. Also würde Araceli jetzt diese typisch lateinamerikanische Beilage vorschlagen und fragen, ob sie noch ein paar Erbsen und Möhren beifügen solle. Sie ging zum Kühlschrank, wo die Liste mit »Notfallnummern« hing, die Maureen vor über einem Jahr auf Scotts Computer erstellt hatte, eine ihre letzten häuslichen Tätigkeiten, ehe die Wehen vor Samanthas Geburt einsetzten. Die Liste war für Araceli und Guadalupe gedacht, doch keine von beiden hatte sie bisher gebraucht, und sie war seither nicht wieder aktualisiert worden.
Maureen Handy stand ganz oben auf der Liste, und Araceli tippte die Zahlenfolge rasch in die Tasten des Küchentelefons, erwartete die Stimme ihrer Chefin am anderen Ende, die beruhigende Wirkung, die sie nicht bloß auf Araceli, sondern auch auf die Kinder haben würde, wenn Araceli ihnen sagte, wo ihre Mutter war und wann sie zurückerwartet wurde. Die Backofenuhr zeigte eine Minute vor halb drei, und die Jungen hatten es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. Sie waren sich bewusst, dass dies ohne Erlaubnis geschah, aus dem einfachen Grund, dass ihre Mutter nicht da war und daher nicht gefragt werden konnte. Araceli lauschte mit einem Ohr in den Hörer, begann sich nach dem vierten Klingeln Sorgen zu machen, beim sechsten und siebten Ton war sie erstaunt und ein wenig verärgert. Das Klingeln hörte auf, und die Mailboxansage fing an. »Hi, Sie haben Maureen Thompson angerufen …«
Araceli sagte unwillkürlich »Señora« , ehe ihr klar wurde, dass am anderen Ende nur die Mailboxstimme war. Sie versuchte es noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. Irgendetwas stimmt hier nicht, entschied Araceli und schaute wieder auf die Uhr: 14:34. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob Maureen wohl wieder zu Hause sein würde, wenn el señor Scott um Viertel vor sechs von der Arbeit käme, und beantwortete die Frage pessimistisch mit Nein. Sie überlässt mir die beiden Jungen den ganzen Tag, ohne was zu sagen. ¡Qué barbaridad! Bisher war ihre Chefin der Inbegriff von Verantwortungsbewusstsein gewesen, etwas, was die Mexikaner empeño nannte – wenn man sich bei seinem Tun Mühe gab und Gedanken machte. Maureen war genau die Sorte Mensch, die sich Hunderttausende Mexikaner, wenn sie zum Arbeiten in die USA kamen, als Arbeitgeberin wünschten: eine kluge und wohlerzogene Chefin, die nie den Zahltag vergaß, die einem in ihrem alltäglichen Verhalten einige nordamerikanische Erfolgsgeheimnisse verriet, zum Beispiel indem sie einen Kalender mit den wichtigsten Ereignissen an den Kühlschrank hing. 2. Juni: Letzter Schultag. 22. Juni: Keenans großer Tag! 17. August: Frauenarzt. 24. August: Brandons großer Tag! 5. August: Schulanfang! ☺
Planung, Organisation, Kategorisierung. Respekt und Bewusstsein für das Vorrücken der Zeiger, rituell und effizient wurden viele Aufgaben und Ereignisse in jeden Tag, in jede einzelne Stunde hineingezwängt. Das waren die Kennzeichen des Alltagslebens mit Maureen Thompson.
Diese Gedanken gingen Araceli durch den Kopf, als sie im Wohnzimmer vorm
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