Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
Keenan.
    Scott war von seiner Umgebung und den Umständen seines Anrufs so abgelenkt – er stand auf einem Rasenstück an der Straße vor Charlotte Harris-Hayasakis Wohnblock –, dass er den verborgenen Hinweis nicht wahrnahm, es könnte womöglich nicht alles in Ordnung sein.
    »Ich musste mal kurz weg von zu Hause.«
    »Eine Art Urlaub?«, fragte Keenan.
    »Ja, so ähnlich.«
    Dieses Gespräch interessierte Keenan weniger als das vorige mit seiner Mutter. Da er nun innerhalb weniger Minuten die Stimmen beider Eltern gehört hatte, schien ihm alles wieder normal, er wollte zu seinem Spiel zurück und außerdem endlich die Spaghetti mit Fleischklößchen essen, die auf der Arbeitsplatte standen.
    »Wie geht es Mommy?«
    »Sie hat gesagt, sie hat sich sehr über dich geärgert.«
    Seine Frau hatte also den lieben langen Tag ihren Söhnen damit in den Ohren gelegen, was für ein schrecklicher Kerl er war: die vollkommen vorhersehbare Fortsetzung des gestrigen Abends.
    »Ich weiß, dass sie sauer auf mich ist«, sagte Scott, und seine Worte klangen traurig und endgültig. In nur einem Augenblick schlug seine Stimmung um. Wie kann sie es wagen, meine Kinder gegen mich aufzubringen. »Ich bin auch sehr sauer auf sie«, sagte er. Er stellte sich vor, dass seine Frau irgendwo in der Nähe wartete, Keenan womöglich den Hörer wegnehmen und ihn fragen könnte, wo er denn stecke, also verabschiedete er sich rasch und sagte seinem Sohn, er solle tun, was seine Mutter ihm sage.
    »Okay, Dad«, sagte Keenan, obwohl seine Mutter gar nicht da war. Er hatte es genauso eilig wie sein Vater, das Gespräch zu beenden.

11 »Ich fürchte mich. Araceli, kannst du bei uns schlafen?«
    Keenan hatte sich die Decke bis unters Kinn gezogen und lag endlich im Bett, nach einer Dreiviertelstunde Weinen und Verwirrung, die Araceli nicht so schnell vergessen würde. Allein schon die Jungen mit geputzten Zähnen in ihre Betten zu kriegen, möglichst genau so, wie ihre Mutter es getan hätte, war eine Herkulesaufgabe gewesen, und dass sie jetzt auch noch gebeten wurde, sich neben ihnen auf den Boden zu legen, das war ihr dann doch zu viel. Sie brauchte einen Augenblick für sich, musste nachdenken, was als Nächstes zu tun war. Die Jungen waren eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung in Panik geraten, als die Fenster zu schwarzen Scheiben wurden und die elternlosen Zimmer spiegelten. »Wo ist Mommy?« »Wo ist Daddy?« Diese Fragen hatten sie mit wachsender Intensität abgefeuert, und sie hatten andere Antworten gewollt als ihr »Ich weiß nicht«, »Bald« oder das spanische »Ya mero« . Araceli sagte ihnen, sie müssten ins Bett, was bei Brandon stumme Tränen hervorgerufen hatte und bei Keenan ein seltsames, hohes, knurrendes Quengeln. Sie sollten ins Bett, obwohl weder Vater noch Mutter da waren, nur diese mürrische mexikanische Haushälterin, und auf einmal fühlten sie sich so verloren wie zwei Jungen, denen ihre Eltern auf einer belebten Geschäftsstraße abhandengekommen waren. Das Zähneputzen und Ausziehen hatte sie so weit beruhigt, dass sie sich die Tränen abwischen konnten; die abendlichen Rituale, die Maureen etabliert hatte, dienten vorübergehend als Ersatz für die Mutter selbst.
    »Kannst du bei uns schlafen?«, wiederholte Keenan.
    Araceli wollte unbedingt in ihr Zimmer, aber das war natürlich unmöglich: Wenn sie sich in ihre casita zurückzog, würde sie die Kinder im Haus allein lassen.
    Man sollte den Kindern nicht einfach nachgeben. Man sollte ihnen nicht alles geben, worum sie bitten.
    In Aracelis Elternhaus in Nezahualcóyotl waren Kinder gehorsam, ruhig und anspruchslos. Vor allem von Mädchen wurde erwartet, dass sie still und reinlich in der Ecke saßen und von den Erwachsenen ignoriert werden konnten. Ein Gute-Nacht-Ritual wie dieses hier im Zimmer der tausend Wunder hatte es in ihrer Kindheit nicht gegeben, nicht in dem Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester geteilt hatte, ein Raum mit einem gekachelten Fußboden, den sie beide wischen mussten, seit sie zehn waren. Der einzige abendliche Gruß war ein kurzer Blick gewesen, den ihre Mutter für gewöhnlich ins Zimmer warf, um ihren Gehorsam zu prüfen. Sie hatten die Missbilligung ihrer Mutter gefürchtet und sie nicht länger als nötig vom abschließenden Lohn ihres Arbeitstages abhalten wollen – dem Aufstieg aufs Dach, wo die Flaggen aus Jeansstoff und Kunstfaser im Wind flatterten und in ihrer kühlen abendlichen Steifheit der Mutter bewiesen: En esta

Weitere Kostenlose Bücher