In den Häusern der Barbaren
verschiedene Szenarien aus, die diese neueste Wendung der Ereignisse erklären konnten. Vielleicht waren dem gewaltsamen Zusammenstoß gestern Abend noch weitere gefolgt, und Maureen hatte schließlich beschlossen, ihren Mann zu verlassen. Oder vielleicht lag sie im Krankenhaus, und Scott war geflohen, um nicht verhaftet zu werden. Oder vielleicht hatte er sie umgebracht und im Garten verscharrt. Man sah in den Nachrichten Berichte über amerikanische Paare, deren Geschichte im Wahnsinn endete, mit Küchenmessern und Schaufeln: Araceli hatte ihre Kenntnisse US -amerikanischer Geografie durch die Karten erweitert, die auf Univision die Orte zeigten, an denen Nordamerikaner ihre schwangeren Ehefrauen oder Verlobten ermordet hatten, Orte mit Namen wie Nebraska, Utah oder New Hampshire.
Araceli wäre ebenfalls gern weggegangen, doch sie konnte nicht, sie war mit einer Kette an dieses Stück kalifornischen Boden gefesselt, und diese Kette führte von ihr zu den beiden Jungen. Sie konnte nicht wegrennen oder auch nur ein bisschen spazieren gehen, denn es waren Kinder im Haus, und sie allein zu lassen hätte geheißen, sich der Verantwortung zu entziehen, selbst wenn man sie Araceli gegen ihren Willen aufgebürdet hatte. ¿Qué diría mi querida madre? Unbewusst lief Araceli auf dem Bürgersteig hin und her, bis zur Grenze des Nachbargrundstücks und zurück. Den beiden Jungen konnte alles Mögliche passieren – sie konnten sogar das Haus in Brand stecken. Araceli durfte also nicht einfach weiter den Hügel hinuntergehen, und diese Erkenntnis ließ sie aufstampfen wie ein unwilliges Kind, das zum Abendessen hereingerufen wird.
Araceli war noch draußen, ungefähr fünfundzwanzig Meter von der geschlossenen Haustür entfernt, als im Haus das Telefon klingelte. Sie hörte es nicht. Da Keenan annahm, dass seine Mutter anrief, unterbrach er sein Spiel beim zweiten Klingeln und rannte aus dem Wohnzimmer in die Küche, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog den anderthalb Meter hoch an der Wand hängenden Hörer beim vierten Klingeln am baumelnden Kabel von der Gabel.
»Hallo? Mommy?«
»Hallo, Schatz.«
»Mommy, wo bist du?«
»Ich bin mal kurz weggefahren.«
»Weg?«
»Ja. Eine Art kleiner Urlaub.«
»Wieso?«
»Weil ich mich sehr über deinen Vater geärgert habe.«
»Ach so.«
Die folgende Pause war so lang, dass sogar der kleine Keenan das Bedürfnis hatte, sie irgendwie zu füllen, doch ihm fiel nichts ein.
»Mommy hat dich lieb«, sagte Maureen schließlich. Sie saß in einem Hotelzimmer mit muffigen alten Navajo-Teppichen und glimmendem Salbei in einer Räucherschale und sah ihrer Tochter zu, die eine Banane verspeiste. Die quiekende Stimme ihres jüngeren Sohnes ließ Bilder häuslicher Routine vor ihrem geistigen Auge ablaufen: Araceli hat die Lage offenbar im Griff , dachte Maureen; sie hilft Scott, und rasch verflogen ihre Sorgen um die Jungen und das Heim, das sie so rasch verlassen hatte. »Mommy ist bloß ein bisschen sauer auf deinen Vater.«
»Wann kommst du zurück?«
»Bald, Süßer. Bald.«
Diese Worte boten Keenan genug Trost, sodass er wieder an sein Spiel denken konnte. Seit Ewigkeiten hatte er schon nicht mehr so lange gespielt wie heute.
»Was habt ihr denn heute gemacht?«
»Wir spielen mit unseren Gameboys«, sagte er. »Ich bin heute bis zur Spitze des Cookie Mountain gekommen. Brandon hat mir gezeigt, wie es geht. Das war echt cool.«
Maureen zuckte zusammen. Kaum kommt Scott nach Hause, lässt er sie diese hirnlosen Sachen spielen.
»Habt ihr schon gegessen?«
Keenan schaute sich in der Küche um und sah die Schalen, die Araceli auf die Arbeitsplatte gestellt hatte. »Wir essen Spaghetti mit Fleischklößen«, sagte er. Maureen hörte »wir« und nahm an, dass auch Scott gemeint war. Nachdem sie zufrieden zur Kenntnis genommen hatte, dass Araceli für ihre Jungen sorgte und Scott in der Nähe war, verabschiedete sie sich von Keenan und legte rasch auf, um jedes unangenehme Gespräch mit Scott zu vermeiden.
Die Jahre der Ehe und der gemeinsamen Kindererziehung hatten Scotts und Maureens innere Elternuhren synchronisiert. Daher klingelte das Telefon erneut, nur eine Minute nachdem Keenan den Hörer wieder eingehängt hatte. Er war schon wieder im Wohnzimmer gewesen, bei seinem Spiel, und schlenderte jetzt gemächlich zurück in die Küche. Erst beim achten Klingeln nahm er den Hörer ab.
»Hallo?«
»Hi! Keenan!«
»Dad?«
»Ja, ich bin’s.«
»Und wo bist du? «, fragte
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