In den Häusern der Barbaren
allzu weit entfernt sein. Araceli wusste genauso wenig wie die meisten Menschen, die in Mexiko aufgewachsen waren, dass es in den Vereinigten Staaten nicht unüblich war, dass eine Familie alle paar Jahre ihre Sachen packte, umzog und den alten Familiensitz zurückließ wie ein Kleid, das sie ein- oder zweimal zu oft getragen hatte. In Mexiko war Grundbesitz eine Konstante. War man einmal ins Grundbuch eingetragen – oder auch nicht –, hatte eine Familie jedenfalls ein Stück Land besetzt, dann pflanzte sie sich dort ein und schlug Wurzeln wie edle alte Eichen, und die Äste ihrer Kinder und Enkel breiteten sich wie ein blühender Baldachin übers Land. Entweder der alte Torres selbst oder irgendein Verwandter von ihm würde noch immer in diesem Haus in der West 39th Street wohnen, genau wie man in und um das Haus am Monte Líbano 210 in Nezahualcóyotl zwanzig bis dreißig Menschen finden konnte, die durch Blut, Heirat oder schwaches Urteilsvermögen mit Araceli verbunden waren.
Dieser Fluchtplan befreite Aracelis Gedanken vom spöttischen Ticken der Uhr, sie war nicht mehr abhängig von ihren abwesenden Arbeitgebern. Sie hatte die Situation selbst in die Hand genommen.
Um 10 Uhr 45 betrat sie das Spielezimmer und fand die beiden Jungen auf dem Sofa, umgeben vom atmosphärischen Rauschen einer jubelnden Menge. Auf dem Flachbildschirm vor ihnen lief ein Footballspiel, doch die Spieler waren auf ihren Positionen erstarrt, einige sogar mitten im Laufschritt, was umso unnatürlicher wirkte, als die Spieler so lebensecht dargestellt waren. Die virtuellen Footballteams warteten darauf, dass einer der beiden Jungen sie mit den Steuergeräten in Bewegung setzte, die achtlos auf den Teppich geworfen und vergessen worden waren. Nachdem ihnen die Freuden der computergenerierten Phantasiewelt endlich langweilig geworden waren, hatten beide Jungen angefangen zu lesen – Brandon war in einen bibeldicken Band vertieft, Keenan in ein Buch mit leuchtend bunten Zeichnungen über die Abenteuer eines Mausjournalisten, in dem der Text in einer wilden Mischung wechselnder Schrifttypen gedruckt war.
»Wann kommen Mom und Dad nach Hause?«, fragte Brandon.
»Macht euch fertig.« Araceli ignorierte die Frage. »Nach dem Mittagessen gehen wir zum Haus von eurem Großvater.«
»Zu Grandpa John?«, fragte Brandon.
»Ja.«
»Großartig!«, sagte Keenan. Sie hatten ihren Großvater väterlicherseits seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, und diese Zeitspanne war das Äußerste, was Keenans Erinnerungsvermögen noch meistern konnte. Allerdings hatte der alte Mann bei beiden Jungen einen bleibenden Eindruck hinterlassen, da er ein ziemlicher Freigeist war und reichlich Bonbons verteilte. Er scherte sich nicht darum, ob ein Film erst ab 13 freigegeben war, und steckte ihnen oft bedeutende Summen Bargeld zu, worüber ihre Eltern dann missbilligend die Augenbrauen hoben. Am meisten verbanden sie mit ihm die Besuche in einer Eisdiele in der Nachbarschaft, wo eine gewisse Schokoladenspeise im Überfluss serviert wurde. Sie erinnerten sich, wie ihr Großvater ihnen gegenübersaß, während sie ihren Nachtisch verschlangen, und wie er vor Freude die Hände rang und ihre Angebote – »Willst du auch mal probieren, Grandpa?« – lachend ablehnte. Brandon und Keenan packten ihre Rollkoffer extra schnell, denn sie rechneten mit einem weiteren Besuch in diesem Zuckertempel und freuten sich außerdem auf die Wohnanlage mit den ausgedehnten Freizeitangeboten, in welcher der alte Torres jetzt allein lebte und jede Hoffnung aufgegeben hatte, dass seine Enkel ihn überhaupt noch einmal besuchen kämen. Sie packten ihre Gameboys ein, woraufhin Araceli sie anwies, alles Spielzeug zu Hause zu lassen und stattdessen mehr Unterwäsche mitzunehmen.
12 Brandon und Keenan gingen voran, ihre kleinen Rollkoffer klapperten übers Gehwegpflaster, die geschulterten Rucksäcke hatten sie mit Büchern und wenigen kleinen Spielsachen gefüllt. Araceli schloss die Haustür hinter ihnen zu und bekreuzigte sich, obwohl sie gar nicht gläubig war: Sie reiste mit zwei Kindern, und man konnte nie wissen, was einem auf der Straße begegnete. An der ersten Abzweigung, die vom Paseo Linda Bonita wegführte, blieb Brandon stehen und sah sich nach Araceli um: Die Augen des Elfjährigen suchten Halt in dem etwas plumpen Bild improvisierter Mütterlichkeit, das sie bot. Sie trug eine Jeans und eine weite Baumwollbluse, über ihrer Schulter hing einer der alten Rucksäcke seiner
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