In den Häusern der Barbaren
eleganten männlichen Handschrift einer anderen Zeit, im flüssigen Stil eines Teenagers, der das Schreiben nach den standardisierten Regeln einer mexikanischen Schule gelernt hatte, so wie auch Araceli, zumindest bis sie dagegen rebelliert hatte.
West 39th Street, L. A ., Julio 1954.
Am Montagmorgen rührte Araceli den Haferbrei mit einer gewissen Endgültigkeit an. Wenn sie das Frühstück zubereitet und serviert hatte, war sie frei, denn el señor Scott war mit Sicherheit im Büro, am Altar seines Schreibtischs, an dem er keinen Wochentag zu beten versäumte. Als die Jungen aufgegessen hatten, gingen sie geradewegs ins Spielzimmer, und innerhalb einer Minute trieben die Soundeffekte von Stahl, der auf Stahl klirrte, in die Küche. Araceli stand vorm Kühlschrank, nahm mit erwartungsfroh zitternden Händen den Hörer ab und tippte die Nummer ein.
»Dies ist der Anschluss von Scott Torres, Vizepräsident Programmierung bei Elysian Systems. Ich telefoniere gerade oder bin nicht an meinem Schreibtisch. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, oder drücken Sie die Null, wenn Sie weiterverbunden werden wollen.«
Sie war erschrocken, schon wieder eine automatische Ansage zu hören, und drückte hastig auf die Null. Nach nur einem Klingeln hörte sie eine echte menschliche Stimme, eine Frau.
»Elysian Systems.«
» Con Scott Torres, bitte. Mr Scott Torres.«
»Tut mir leid, der hat sich heute krankgemeldet.«
»¿Qué?«
»Wie bitte?«
»Er hat krankgemeldet?«
»Ja«, sagte die Telefonistin und sprach nun langsamer, weil die Frau am anderen Ende der Leitung offenbar des Englischen nur mangelhaft mächtig war. »Er hat sich krankgemeldet.«
»¿Cómo que krank?«
Inzwischen amüsierte sich die Empfangsdame über den Widerspruch, dass eine Frau mit so starkem Akzent und so limitierten sprachlichen Fähigkeiten bei einer zwar kleinen, aber doch höchst innovativen Softwarefirma anrief und im selben Tonfall einen leitenden Angestellten zu sprechen verlangte, in dem sie sonst wahrscheinlich ihr scharf gewürztes Essen bestellte.
»Krank, ja. Unwohl. Nicht arbeitsfähig. Soll ich Sie zu seiner Mailbox durchstellen, damit Sie ihm eine Nachricht hinterlassen können?«
»Eine Nachricht? Ja. Bitte.«
Araceli dachte rasch nach, was sie sagen sollte, während Scotts Ansage wieder im Hörer erklang. Ihr Puls fing an zu rasen.
» Señor Scott. Estoy sola con los niños. Ich bin mit den Jungen allein.« Sie hielt inne, und wertvolle Sekunden verstrichen, während sie überlegte, wie sie diese entscheidende Tatsache weiter erläutern solle. » ¡Sola! Por tres días ya. Se nos está acabando la comida. Das Essen ist alle fast. No sé qué hacer. La señora Maureen se fue. Ich weiß nicht, wo sie ist …«
Ein lauter Ton klang aus dem Hörer, und das Gespräch war beendet.
Scott Torres saß nicht an seinem Schreibtisch, weil er sich am Montagmorgen in einem Hotelzimmer erholte, allein, da er nach zwei Nächten aus Charlotte Harris-Hayasakis Wohnung geflohen war, mit mehr oder weniger unbefleckter ehelicher Treue. Dank der Minibar war er um 8 Uhr 45 verkatert in einem hell erleuchteten Hotelzimmer mit offenen Vorhängen erwacht, zum Telefon gestolpert und hatte sich zehn Minuten später beim Empfang für den Tag krankgemeldet, denn er hatte in seinem verwirrten Geisteszustand vergessen, dass er der ganzen Abteilung und damit auch sich selbst den Montag freigegeben hatte, als Brückentag zwischen Wochenende und dem morgigen Feiertag. Er duschte, zog sich an und zahlte die Hotelrechnung in bar. Es war Zeit, nach Hause zu fahren und Maureen gegenüberzutreten.
Nachdem Araceli aufgelegt hatte, blieb sie noch ein paar Minuten vorm Telefon stehen, weil es im Bereich des Möglichen schien, dass Scott ihre Nachricht sofort erhielt und zurückrief. Sie hatte bereits beschlossen, dass sie keine weitere Nacht auf dem Fußboden vor El Cuarto de las Mil Maravillas verbringen würde. Ehe der Tag vorbei war, würde sie entweder einen ihrer beiden Arbeitgeber erreicht und von ihrer Not unterrichtet haben, oder sie würde nach Los Angeles aufbrechen, zur Adresse des Patriarchen der Familie Torres, zu dem Schindelhaus, das auf dem glänzenden Foto abgebildet war. In ihren ersten paar Wochen in Kalifornien hatte Araceli an einer ganz ähnlichen Adresse gewohnt, 107 East 23rd Street, und wenn die Straßennamen dem logischen System folgten, das man von einer nordamerikanischen Stadt erwarten konnte, dann dürfte 232 West 39th Street nicht
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